Sonntag, November 24

Das wichtigste innenpolitische Phänomen des 21. Jahrhunderts ist der Populismus. Trump ist der Führer einer freien Welt, die von ihren Ängsten überwältigt wird.

Donald Trump hat die Wahl gewonnen, und das hat einen Grund. Der Republikaner ist der empfindlichste Seismograf unserer Epoche. Der Mann, der alles bis zur Karikatur vergrössert und vergröbert, dessen Reden vor Entgleisungen, haltlosen Unterstellungen und irren Übertreibungen strotzen, besitzt ein feines Sensorium. Früher als andere erkannte er den gewaltigen Umbruch in den westlichen Industriegesellschaften.

Im Wahlkampf 2016 erschreckte der alte und neue Präsident die liberalen Eliten mit seinen aggressiven Vorschlägen zur Bekämpfung der Migration. Eine Mauer wollte er bauen an der Grenze zu Mexiko. Der Zeitgeist war damals noch ein anderer.

Angela Merkel propagierte zur gleichen Zeit ihre Willkommenskultur und verkündete, Grenzen liessen sich nicht überwachen. In wenigen Monaten strömte eine Million Menschen nach Deutschland. Merkel wurde dafür als «Führerin der freien Welt» gefeiert. Trump musste sich anhören, dass eine Steuerung der illegalen Migration nicht möglich sei.

Heute kontrolliert Deutschland seine Grenzen zu den Nachbarstaaten, und Italien richtet Lager in Albanien ein. Finnland weist Asylsuchende ab, weil Russland diese als Waffen im hybriden Krieg mit dem Westen missbraucht.

Nichts verdeutlicht die Zeitenwende so wie die Ankündigung des polnischen Ministerpräsidenten Tusk, sein Land werde im Bedarfsfall das Asylrecht aussetzen. Ausgerechnet Tusk. Der Hoffnungsträger des europäischen Establishments, vollzieht einen Kurswechsel, für den Brüssel seinen konservativen Vorgänger geteert und gefedert hätte.

Abgehängt und Bürger zweiter Klasse – die Ungleichheit wächst

Trendsetter Trump. Er spürte frühzeitig, wie sich in den westlichen Gesellschaften Widerstand gegen ungesteuerte Einwanderung und jede Form utopischer Politik aufbaute. Die zentristischen und linksliberalen Parteien frohlockten über die «Bereicherung» durch Asylmigranten. Die Wähler aber sahen den Sozialstaat und die kulturelle Identität bedroht.

Die Zeitenwende manifestiert sich zudem in der Art, wie die Bürger der Industriestaaten über Wirtschaft denken. Die Globalisierung mehrte den Wohlstand, aber sie beschleunigte auch die Deindustrialisierung. Der amerikanische Rust Belt ist längst überall. Daran ändert auch eine robuste Konjunktur wie in den USA nichts, denn ihre Früchte sind ungleich verteilt. Unter der Inflation leiden Amerikaner aus der Unter- und der Mittelschicht, nicht die Reichen.

Ungleichheit ist nicht nur in Amerika ein zentrales Thema. Das wirtschaftliche Gefälle zwischen Süd- und Nordengland ist heute grösser als jenes zwischen West- und Ostdeutschland. Abgehängt und Bürger zweiter Klasse: Auf Sheffield trifft das eher zu als auf die Ex-DDR.

Selbst in den europäischen Wohlstandsregionen geht die Angst um. Noch sieht es an den deutschen Standorten von VW nicht wie in Detroit aus. Dennoch fragen sich die Mitarbeiter der von Schliessung bedrohten Werke, ob die chinesische Konkurrenz die europäische Autoindustrie in den Untergang treibt.

Der künftige Präsident hat keine ökonomisch sinnvollen Antworten zu bieten. Sein Lieblingsrezept Strafzölle ist kontraproduktiv, auch wenn Joe Biden den Protektionismus kopierte. Aber Trump nimmt die Abstiegsängste der verbitterten Mittelschicht ernst.

Hillary Clinton nannte diese Menschen «erbärmlich», Biden bezeichnet sie als «Müll». Der britische Premierminister Keir Starmer sah in den fremdenfeindlichen Ausschreitungen des Sommers nur Randale, auf die er mit drakonischer Härte antwortete. Den Hilferuf der ärmsten Gegenden Englands hörte er nicht.

Weil die Altparteien die Sorgen zu spät aufgreifen, hat sich der Populismus als das innenpolitisch wichtigste Phänomen des frühen 21. Jahrhunderts etabliert. Es ist eine kleine Revolution. Trump ist der Führer der freien Welt, die von ihren Ängsten überwältigt zu werden droht.

Auch in den Niederlanden und in Österreich haben Rechtspopulisten die nationalen Wahlen für sich entschieden. In Ostdeutschland schnitten sie in zwei von drei Bundesländern am besten ab.

Die USA und Europa unterscheiden sich gar nicht so sehr, obwohl die Europäer verächtlich auf das vom Morbus Trump heimgesuchte Amerika herabblicken. Alles, was Trump zum allgemeinen Entsetzen ins Rampenlicht zerrt, findet sich auch auf dem alten Kontinent.

Der dritte Trend sind die zunehmenden Bruchlinien in den Industriegesellschaften. Die Polarisierung reicht tiefer als die Sprachlosigkeit zwischen rechts und links und die Filterblasen, in die sich Internetnutzer zurückziehen.

Die Spaltung äussert sich beispielsweise im Stadt-Land-Graben. Er ist eben nicht mehr nur der Gegensatz zwischen Trachtengruppen und Hillbillys oder urbaner Schickeria. Die Landbevölkerung hat sich in den USA wie in Europa dem politischen System entfremdet.

Die Unzufriedenheit speist sich aus wirtschaftlichem Abstieg und kultureller Zurücksetzung. Sie entlädt sich in den Demonstrationen der französischen Gelbwesten, in Bauernprotesten und dem republikanischen Triumph im US-Hinterland.

Selbst die Umweltpolitik ist der Polarisierung zum Opfer gefallen. In ihrem moralischen Furor hat es Mitte-links geschafft, die Klimafrage ideologisch so aufzuladen, dass bereits das Wort Erderwärmung als Frontalangriff auf eine traditionelle Lebensweise mit Auto und Eigenheim verstanden wird. Wie bei der Migration auch hier ein Übermass an utopischen Erwartungen, die mit der Realität der meisten Menschen wenig zu tun haben.

So vergeht die Lust auf Zukunft

Die Moderne ist eine Geschichte des permanenten Wandels und damit des permanenten Verlusts. Neues entsteht, Altes verschwindet. Diese Verlusterfahrung hat sich jedoch seit der Jahrtausendwende akzentuiert.

Auf unterschiedliche Weise haben die Bürger in den Industrieländern das Gefühl, Verlierer zu sein. Sie suchen daher Schutz und Sicherheit. Die Europäer wollen weniger Migration, weniger Personenfreizügigkeit. Das Schengen-Regime wird nur in abgespeckter Form überleben.

In dem Jahr, als Trump das erste Mal gewählt wurde, entschied sich Grossbritannien für den Brexit. Der Slogan lautete: «Take back control.» Er ist der perfekte Ausdruck der Gegenwart. Die Wähler glauben, die Kontrolle über ihr Leben und ihre Gesellschaften verloren zu haben.

Die Grundströmung, die Trump nach oben gespült hat, wird nicht verschwinden. Ihn als Faschisten zu titulieren, wie es Kamala Harris in Torschlusspanik tat, ist daher so sinnlos wie eine entsprechende Etikettierung von Marine Le Pen, Giorgia Meloni oder Alice Weidel. Die vernünftige Mitte sollte sich überlegen, warum der weisse alte Mann und die Frauen so erfolgreich sind. Denn nach der Wahl ist vor der Wahl.

Man kann den Menschen nicht gleichzeitig erzählen, dass sie weniger verdienen, dass sie ihr Land angesichts der Masseneinwanderung nicht mehr wiedererkennen werden und dass sie ihren gewohnten Lebensstil aufgeben müssen. Jede dieser Forderungen ist eine Zumutung. Alles zusammen ist eine einzige, grosse Überforderung. Diese provoziert nur Trotz und nicht die Erkenntnis, dass eine gesteuerte Migration, Personenfreizügigkeit und Globalisierung weiterhin sinnvoll sind.

Im Sturm der Moderne boten linke Parteien Entlastung, indem sie für soziale Sicherheit und den Aufstieg leistungsbereiter Arbeiter kämpften. Die Zumutungen liessen sich so besser bewältigen.

Heute kümmert sich die europäische Linke vorzugsweise um Migranten und Fürsorgeempfänger. Die amerikanischen Demokraten hetzen ihre frühere Klientel – den «erbärmlichen Müll» – durch den Hindernisparcours von Gender-Pronomen und Critical Race Theory.

Die Erfahrung von Wandel und Verlust ist nicht neu. Neu ist nur, wie wenig Fortschrittsoptimismus die Politik derzeit im Angebot hat. Der Wahlsieger beschwört die Vergangenheit mit dem Spruch «Make America great again». Alles soll so sein wie früher. Die europäische Linke warnt vor der Klima-Apokalypse. Rein gar nichts darf so bleiben wie früher.

Wer soll da noch Lust auf Zukunft haben?

In den siebziger Jahren glaubte der Westen, den Autos und Managementmethoden der Japaner nichts entgegensetzen zu können. Das Gejammer über den unvermeidlichen Niedergang war gross. Doch es kam anders. Man lernte von Japan und übertrumpfte es.

Die Zukunft gehört weder Nostalgikern noch Apokalyptikern. Sie gehört denen, welche die realen Probleme anpacken und die Menschen dabei mitnehmen – ohne dauererhobenen Zeigefinger und ohne populistischen Krawall.

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