Die Tschechoslowakei, Polen: Nach dem Ersten Weltkrieg entstanden in Osteuropa neue Nationalstaaten. Im Machtpoker zwischen Hitler, Stalin und Roosevelt waren sie Verhandlungsmasse.
Die Nationalstaaten in Osteuropa sind Zerfallsprodukte früherer Grossreiche – entweder als Rumpfimperien oder als neue Projekte ehemaliger Minderheiten, die sich zu Titularnationen erklärten. Die Russische Föderation ist aus dem Zarenreich und der Sowjetunion hervorgegangen. Aber etwa auch in Ungarn werden immer noch die «Länder der Stephanskrone» beschworen, die unter anderem die heutige Slowakei, Kroatien und die Ukraine umfassten. Viktor Orbáns neue Verfassung aus dem Jahr 2011 beginnt mit einem «nationalen Bekenntnis», das sich auf König Stephan den Heiligen aus dem 10. Jahrhundert beruft.
Auf Kosten der Imperien entstanden nach dem Ersten Weltkrieg zahlreiche neue Nationalstaaten. Tomáš Garrigue Masaryk lobbyierte bei seinem Freund Woodrow Wilson erfolgreich für die Schaffung eines tschechoslowakischen Staates. Die Bevölkerungsverhältnisse (51 Prozent Tschechen, 24 Prozent Deutsche, 15 Prozent Slowaken) hätten die Schaffung eines tschechisch-deutschen Staates nahegelegt. Erst durch die Konstruktion eines «tschechoslowakischen Volkes» konnte Masaryk seine slawisch dominierte Staatskonzeption durchsetzen.
Polen erhielt 1918 nach über 120 Jahren seine Staatlichkeit zurück. Zwar verfügte der neue polnische Staat über einen schmalen Meerzugang an der Ostsee, dieses Zugeständnis blieb aber weit hinter den polnischen Forderungen zurück. Gleichzeitig teilte dieses Arrangement Ostpreussen vom Kerngebiet der Weimarer Republik ab. Verbindungsprojekte wie eine exterritoriale deutsche Autobahn über polnisches Gebiet wurden zwar diskutiert, aber nie umgesetzt. Aus der Überlappung historischer Imperien und neuer Nationalstaaten entstand in Osteuropa eine explosive Gemengelage, die in der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts zu erzwungenen Gebietsabtretungen führte.
Hitlers Pläne
Als abschreckendes Beispiel darf das Münchner Abkommen 1938 gelten, das die Tschechoslowakei schrittweise zerstückelte. Der britische Premierminister Neville Chamberlain verfolgte eine Appeasement-Politik und wollte um jeden Preis einen neuen Krieg in Europa verhindern. Er erklärte unter entwaffnender Offenlegung seiner Ignoranz: «Es wäre schrecklich, ungeheuerlich und unglaublich, wenn wir hier Schützengräben ausheben und Gasmasken anprobieren würden wegen eines Streits in einem weit entfernten Land, zwischen Menschen, über die wir nichts wissen.»
Das Münchner Abkommen zwischen Deutschland, Grossbritannien, Frankreich und Italien war eine Reaktion auf Hitlers immer lautere Forderungen, die sudetendeutschen Gebiete in der Tschechoslowakei an Deutschland anzuschliessen. Bereits im November 1937 hatte der deutsche Diktator an einer internen Besprechung vermutet, dass «mit hoher Wahrscheinlichkeit England, voraussichtlich aber auch Frankreich die Tschechei bereits im Stillen abgeschrieben» hätten.
Von Anfang an ging es Hitler nicht nur um die Angliederung der sudetendeutschen Gebiete, sondern auch um die Zerschlagung der Tschechoslowakei. Er heizte die Sudetenkrise bewusst an. In Grossbritannien zeigte man Verständnis für das «Selbstbestimmungsrecht» der Sudetendeutschen. Am 29. September 1938 unterzeichneten Hitler, Mussolini, Chamberlain und Daladier in München ein Abkommen, das die Abtretung der sudetendeutschen Gebiete vorsah. Ausserdem gaben Grossbritannien und Frankreich eine Sicherheitsgarantie für die Tschechoslowakei in den neuen Grenzen ab.
Ein «ehrenvoller Frieden»
Pikanterweise stellten auch Deutschland und Italien eine solche Garantie in Aussicht. Die tschechoslowakische Regierung war nicht zu den Verhandlungen eingeladen worden und wurde erst am nächsten Tag über das Fait accompli unterrichtet. Chamberlain stellte sich nach seiner Rückkehr an die Downing Street vor die Presse und verkündete mit Genugtuung, er habe einen «ehrenvollen Frieden» nach Hause gebracht: «Ich glaube, es ist ein Frieden für unsere Zeit. Nun gehen Sie nach Hause, und schlafen Sie ruhig und gut.»
Allerdings stiess das Münchner Abkommen im Unterhaus auf heftige Kritik. Winston Churchill sprach von einer «totalen Niederlage» für Grossbritannien. Hitlers aggressive Politik beschrieb er in einer Allegorie: «1 Pfund wurde am Anfang mit vorgehaltener Pistole verlangt. Als man zahlte, wurden 2 Pfund mit vorgehaltener Pistole verlangt. Am Schluss nahm der Diktator 117 Pfund und den Rest in Versprechungen für die Zukunft.» Churchill schloss seine Rede mit einer Warnung: «Das ist nur der erste Schluck, der erste Vorgeschmack eines bitteren Kelchs, den wir Jahr für Jahr trinken werden müssen, wenn wir nicht in moralischer Gesundheit und Kriegstüchtigkeit wiederauferstehen und wie in alten Zeiten die Freiheit verteidigen.»
Wie von Churchill vorhergesagt, brach Hitler am 15. März 1939 das Münchner Abkommen und besetzte das übrige Staatsgebiet der Tschechoslowakei. Darauf beendete Chamberlain seine Appeasementpolitik und gab – gemeinsam mit Frankreich – eine Garantieerklärung für die Unabhängigkeit Polens ab. Allerdings setzten sowohl Grossbritannien als auch Frankreich der deutschen Aggression wenig entgegen, als Hitler am 1. September 1939 Polen überfiel. Der Sitzkrieg dauerte neun Monate.
Stalin stellt Forderungen
Unrühmlich verhielt sich in der Sudetenkrise auch Polen, das im Windschatten des Münchner Abkommens seine eigenen Ansprüche auf das tschechoslowakische Teschen durchsetzte und kurzerhand in die Stadt einmarschierte. Das mit Deutschland verbündete Ungarn sah ebenfalls die Stunde für eine Revision der verhassten Versailler Friedensordnung gekommen.
Der Vertrag von Trianon hatte im Jahr 1920 Ungarn auf ein Drittel seines ursprünglichen Staatsgebietes reduziert. Während der gesamten Zwischenkriegszeit wehten die Staatsflaggen auf halbmast. «Nein, nein, niemals» lautete der gesellschaftliche Konsens in Ungarn. Im November 1938 fällten der deutsche und der italienische Aussenminister in Wien einen «Schiedsspruch», in dem Teile der Slowakei dem deutschfreundlichen Ungarn zugesprochen wurden. Mit der Einsetzung von Joachim von Ribbentrop und Galeazzo Ciano als «Schiedsrichter» hatte Hitler allerdings den Bock zum Gärtner gemacht.
Als sich die Niederlage Deutschlands im Jahr 1944 abzeichnete, stellte sich die polnische Frage erneut in aller Dringlichkeit. Stalin wollte weite polnische Ostgebiete abtrennen und den Sowjetrepubliken Litauen, Weissrussland und Ukraine einverleiben. Bald zeigte sich, dass Washington und London bereit waren, den Forderungen des sowjetischen Diktators nachzugeben. Im Juni 1944 reiste der polnische Exil-Ministerpräsident Stanislaw Mikolajczyk nach Washington, um mit dem amerikanischen Präsidenten zu sprechen.
Eine neue Teilung
Franklin Roosevelt schlug einen versöhnlichen Ton an und unterstützte die Idee, dass Polen nach dem Krieg etwa gleich gross sein solle wie vorher. Er sprach davon, dass Schlesien, Ostpreussen und Königsberg zu Nachkriegspolen gehören sollten. Gleichzeitig riet er Mikolajczyk, auf gute Beziehungen zu Stalin hinzuarbeiten. Auf Mikolajczyks Einwurf, er wolle die Souveränität Polens erhalten, entgegnete Roosevelt trocken, es gebe fünf Mal so viele Russen wie Polen.
Mikolajczyk beugte sich dem Rat des amerikanischen Präsidenten und reiste nach Moskau. Dort traf er am 14. Oktober 1944 auch Winston Churchill, der ihn in einem vulgären Ton zwingen wollte, den Verlust der polnischen Ostgebiete zu akzeptieren. Der britische Premierminister wetterte: «Ihr seid gar keine Regierung, wenn ihr unfähig seid, Entscheidungen zu treffen. Ihr seid gefühllose Menschen, die Europa in den Abgrund treiben wollen. Ich werde euch euren Problemen überlassen. Ihr habt kein Verantwortungsgefühl, wenn ihr euer Volk zu Hause verraten wollt und gleichgültig gegenüber seinem Leiden bleibt. Ihr kümmert euch nicht um die Zukunft Europas, ihr habt nur eure eigenen egoistischen Interessen im Kopf.»
Auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 wurde das territoriale Schicksal Polens besiegelt. Roosevelt und Churchill gaben Stalins Druck nach einer Abtrennung der polnischen Ostgebiete nach und konnten sich auch nicht mit der Forderung durchsetzen, dass Lwów (Lemberg) polnisch bleiben sollte. Gleichzeitig wiegten sie sich in der Illusion, dass es im neuen polnischen Staat demokratische Wahlen geben könnte.
Die polnische Exilregierung in London protestierte umgehend: «Für das polnische Volk ist das Abtrennen der polnischen Ostgebiete eine neue Teilung Polens, diesmal aber vollzogen durch die Verbündeten Polens.» Diese bitteren Worte änderten jedoch nichts mehr an den politischen Realitäten.