Die kanadischen Wahlen am Montag stehen im Zeichen von Trump und seinen Zolldrohungen. Paradoxerweise hat der amerikanische Präsident ausgerechnet den Liberalen unter dem neuen Premierminister Mark Carney zum Revival verholfen.
In Calgary in einen Supermarkt zu gehen, ist gegenwärtig ein eigenartiges Erlebnis. Neuerdings wird man schon am Eingang mit einem riesigen Sortiment an kanadischen Fahnen, Abziehbildern, Windrädchen, Schlüsselanhängern, Hüten und Socken empfangen, alles mit dem nationalen roten Ahornblatt auf weissem Grund verziert. Als ob immer Nationalfeiertag wäre. Die Drohung Trumps, Kanada zu annektieren, seine massiven Zölle und die Beleidigungen gegenüber der Regierung haben zu einer Welle des Patriotismus geführt. Und zum Boykott.
In den Supermärkten markieren Fähnchen die einheimischen Produkte; Gestelle, in denen früher amerikanische Produkte auslagen, sind plötzlich leer – weil es keine Nachfrage mehr gibt. Auf einmal schauen die Kunden auf die «Made in . . .»-Etiketten. Besonders augenfällig ist der Trend in den Liquor-Stores. Weine aus Kalifornien, Budweiser-Bier und amerikanische Whiskeys findet man kaum noch.
Trumps Angriffe schweissen die Kanadier zusammen
Auch die Winterferien im sonnigen Florida, auf die sich die durchfrorenen Kanadier früher freuten, werden abgesagt. Bilder der Anzeigetafeln mit den annullierten USA-Flügen am Flughafen sind zu einem beliebten Motiv in den sozialen Netzwerken geworden, ebenso wie Fotos der leeren Gestelle oder der amerikanischen Äpfel, die vor sich hin faulen, weil sie niemand kauft.
Trumps Aggressionen gegen Kanada haben ironischerweise den Liberalen einen unglaublichen Boom verschafft. Letzten Herbst dümpelten ihre Zustimmungsraten um die 20 Prozent dahin, während die Konservativen über 40 Prozent erreichten. Dann kam nach der Wahl von Trump die Zolldrohung. Der damalige Premierminister Justin Trudeau reiste Ende November nach Mar-a-Lago. Trump demütigte ihn, indem er davon sprach, Kanada zum 51. Gliedstaat der USA zu machen, und Trudeau abschätzig als Gouverneur bezeichnete. Zwar war der Liberale Trudeau in Kanada ausgesprochen unbeliebt, aber der Volkszorn kochte.
Anfang Januar kündigte Trudeau seinen Rücktritt an. Er wurde im März durch den früheren Chef sowohl der kanadischen wie der englischen Notenbank, Mark Carney, ersetzt. Dieser kündigte für den 28. April Neuwahlen an. Und auf einmal war alles anders. Dem polternden Rechtspopulisten Pierre Poilievre, dem Vorsitzenden der Konservativen, wurde seine Ähnlichkeit zu Trump zum Verhängnis. Man traute ihm nicht mehr zu, dass er ihm entschieden entgegentreten könnte. Der sachliche, farblose Carney hingegen, mit seiner ökonomischen Kompetenz und seinem internationalen Netzwerk, wurde plötzlich zum Mann der Stunde.
Die Liberalen, die Trudeau endlich losgeworden waren, erlebten ein Revival. Ihre Umfragewerte liegen nun bei 43 Prozent, diejenigen der Konservativen bei 38 Prozent. Einen so rasanten Meinungsumschwung gab es noch kaum je in der kanadischen Geschichte.
Den Konservativen fehlen plötzlich die Feindbilder
«Seit der Ankündigung der Wahlen versuchen die Konservativen den Kanadiern einzureden, Carney sei lediglich eine Neuauflage von Trudeau», sagt Lori Williams, Professorin für Politikwissenschaft an der Mount-Royal-Universität in Calgary. «Aber das Argument verfängt nicht, weil der nüchterne, etwas langweilige Carney so anders ist als der selbstverliebte Trudeau.» Carney beeindruckte die Kanadier, als er nach seinem Amtsantritt als Erstes nicht nach Washington, sondern nach Grossbritannien und Frankreich reiste und dort von Starmer und Macron als alter Bekannter empfangen wurde.
Vom ersten Moment an habe Carney, dem jede politische Erfahrung abgeht, viel staatsmännischer gewirkt als der Vollblutpolitiker Poilievre. «Poilievre setzte auf Polarisierung und Provokation und hatte lange Erfolg damit», sagt Williams. «Aber nun ist Einheit gefragt. Interne Differenzen treten zurück.» Poilievres Schwarzmalereien zum angeblich katastrophalen Zustand Kanadas, in Anlehnung an Trumps apokalyptische Töne, sind nicht mehr gefragt. Man sei demonstrativ stolz auf sein Land und lasse sich nicht mehr beleidigen, auch nicht von innen, sagt Williams.
Carney nahm den Konservativen auch noch in anderer Hinsicht den Wind aus den Segeln. Poilievre hatte eigentlich Trudeaus umstrittene CO2-Steuer ins Zentrum seines Wahlkampfs stellen wollen. Aber nachdem das Thema angesichts von Trumps Zolldrohungen sowieso in den Hintergrund gerückt sei, habe Carney ohne Umschweife angekündigt, diese abzuschaffen, sagt Williams. «Ohne Trudeau und seine Themen wissen die Konservativen gar nicht mehr, worüber sie eigentlich sprechen sollen.»
Das unfassbare Calgary
Calgary in der Provinz Alberta ist ein politisches Rätsel. Es gilt als die Erdölhauptstadt Kanadas, ähnlich wie Houston in den USA. Man würde erwarten, dass die Millionenstadt mit fast vierzig Prozent Nicht-Weissen, den Universitäten und einem hohen Bildungsstand links geprägt sei, so wie Toronto oder Vancouver. Dem ist aber nicht so.
«Calgary ist ein Unikum», sagt der Polit-Stratege Zain Velji. «Auf nationaler Ebene wählt die Stadt stramm konservativ, aber auf lokaler Ebene links.» Für die grösste Überraschung sorgte Calgary, als es 2010 Naheed Nenshi zum ersten muslimischen Bürgermeister einer Grossstadt in Nordamerika wählte. Er blieb bis 2021 im Amt. Velji war Nenshis Wahlkampfmanager. «Niemand verstand das», sagt er. «Wie konnte diese erzkonservative Cowboy-, Rodeo- und Ölstadt einen dezidiert linken Muslim wählen?»
Seiner Meinung nach hat das mit der speziellen Mentalität der Bewohner zu tun, in der vielleicht noch einiges vom frühen Pionier- und Siedler-Spirit weiterlebt. Die Bewohner sind individualistisch und staatsfeindlich, misstrauisch gegenüber der Regierung und Regulierungen, aber tolerant gegenüber anderen Lebensstilen und in praktischen Fragen pragmatisch und unideologisch. Velji zitiert einen in Alberta beliebten Ausspruch: «Schneeräumung ist weder links noch rechts.»
Vielleicht ist diese Haltung für einen Europäer einfacher zu verstehen. Es ist die klassische liberale Einstellung: möglichst wenig staatliche Einmischung, niedrige Steuern, maximale individuelle Freiheit.
«Die Stadt der Träumer und der Macher»
Brad Parry, der CEO von Calgary Economic Development, einer Agentur an der Schnittstelle von Stadtverwaltung, Unternehmen und Investoren, drückt es so aus: «Das ist die Stadt der Träumer, der Macher und der Innovatoren, wo eine Das-kriegen-wir-hin-Mentalität herrscht. In einer Stadt mit 175 Sprachen und 1000 Lebensstilen haben wir es gern, wenn man uns einfach machen lässt.» Der Erfolg gibt Calgary recht: In den letzten anderthalb Jahren zogen 100 000 Leute hierher. Es gibt Jobs und erschwinglichen Wohnraum. Euphorisch zeigt er aus seinem Bürofenster im 26. Stock auf die Wolkenkratzer der Innenstadt. Die Energie-Stadt, im doppelten Sinne. Auch die Zölle sieht Parry eher als Chance. Sie gäben Kanada den nötigen Kick, die Handelsbarrieren im Landesinnern aufzuheben, das Rohöl endlich im Land selbst zu raffinieren statt in den USA, die nötigen Pipelines zu bauen und das Öl von Vancouver aus nach Asien zu verschiffen.
Parry lobt auch die Kulturszene, die Museen und Galerien in Calgary in den höchsten Tönen. Sie sind für ihn der Beweis, dass Calgary eben nicht nur eine geistlose Business-Stadt ist oder der «Bancomat Kanadas», wie sie manchmal genannt wird.
Desillusioniert im Betonbüro
Ganz anders ergeht es Muriel Kahwagi. Sie ist Kuratorin am Kunstmuseum Contemporary Calgary und stammt aus Beirut. Die Stadt empfindet sie als rückständig und repressiv. Es macht ihr Mühe, dass das meiste Geld hier letztlich vom Öl kommt. «Wir sind glücklich, dass wir wenig Steuern zahlen, aber es ist dank den Unternehmen, die den Planeten zerstören.» Ihre düstere Sicht passt zu ihrem Büro mit den nackten Betonwänden im brutalistischen Museumsbau. Sie befürchtet, dass Kanada einen wirtschaftlichen Kollaps à la Libanon erleiden könnte.
Die Kanadier empfindet sie als selbstgerecht. «Trump ist eine willkommene Gelegenheit für sie, auf die USA herunterzuschauen», sagt sie. «Sie fühlten sich den Amerikanern schon immer moralisch überlegen, dabei waren sie, was zum Beispiel die Indigenen angeht, keinen Deut besser. Da gibt es viel Heuchelei.»
Die Linken seien, ähnlich wie in den USA, selber schuld am Erfolg der Rechten – weil sie die Arbeiter vergessen hätten. Dass Kahwagi ausgerechnet mit Geldern von Banken und der Industrie antikapitalistische Ausstellungen realisieren kann, gibt ihr zwar eine gewisse Befriedigung, aber die Ironie entgeht ihr nicht. Manchmal scheint ihr, die Kunstwelt sei eine grosse Geldwäscherei-Anlage.
Kanadische Lebenslügen
Für Janet Brown liegt die kanadische Heuchelei eher bei den Linken. «Sie sind zum Beispiel aus Umweltschutzgründen gegen Pipelines, aber vergessen, dass das Öl dann auf der Schiene oder auf Schiffen transportiert wird, was viel riskanter ist», sagt sie. «Sie verteufeln die Ölfirmen in Calgary, fahren aber Auto, fliegen und heizen ihre Wohnung. Wollen sie ihr Öl lieber aus Venezuela beziehen?»
Brown ist Meinungsforscherin; in Calgary wird sie «Orakel von Delphi» genannt. Die Doppelmoral rund um das Öl ist ihrer Meinung nach auch ein Grund, warum Trudeau in Alberta so unbeliebt war: Er verteufelte die Provinz als Umweltverschmutzer, zugleich verteilte die Regierung die Staatsgelder, die vor allem vom hiesigen Öl stammen, als gäbe es kein Morgen. «Die Energiepolitik steckt voller Widersprüche», sagt sie. «Nun versucht man angesichts der Zölle alles, um die Autoindustrie zu retten, verteufelt aber zugleich die Ölbranche, die den Autos den Treibstoff liefert.»
Monte Solberg sass 1993 bis 2008 im Parlament und war zweimal Minister. Als Konservativer äussert er sich natürlich ebenfalls kritisch über die Liberalen; Carney aber, den er seit langem kennt, zollt er trotz gewissen Bedenken Respekt. «Carney verfügt über enormes Wissen und beeindruckende internationale Erfahrung, aber er war nie Politiker», sagt er. «Ein so grosses Land mit so verschiedenen Interessen und Kulturen zu vereinen, erfordert enormes Geschick», sagt der 66-Jährige. «Carney hat sich zum Beispiel Journalisten gegenüber oft kratzbürstig verhalten. Er versteht nicht, dass sie die – aus seiner Sicht vielleicht dummen – Fragen stellen, die auch die Öffentlichkeit beschäftigen.» Aber Carney sei krisenerprobt und belastbar, ein Fels in der Brandung, im Gegensatz zum Unruhestifter Poilievre. «Ein Hitzkopf ist das Letzte, was wir in diesen stürmischen Zeiten brauchen.»
Das sieht auch Patrick Wu so, der in einer ganz anderen Welt als Solberg lebt. Der 42-Jährige kam als Kind aus Taiwan nach Kanada, wo er in Psychologie doktorierte. Heute unterrichtet er, führt daneben einen Pub und einen Game-Shop. «Eigentlich wollen wir in Alberta, dass die Politik so langweilig wie möglich ist, damit wir uns nicht damit beschäftigen müssen», sagt er beim Gespräch in einem vietnamesischen Restaurant. «Aber dieses Mal ist es anders. Es steht so viel auf dem Spiel.»
Die Zölle betreffen ihn unmittelbar, weil viele der elektronischen Geräte, die er verkauft, aus China und den USA kommen. Dasselbe gilt für die Nahrungsmittel im Pub. Er wird für die Liberalen stimmen. «Aber mit meinen Ansichten stehe ich ziemlich alleine da», sagt er. «Deshalb wollte ich das Gespräch auch nicht im Shop oder im Pub führen. Meine Kunden und Angestellten sind alle konservativ und meine Nachbarn ebenfalls. Es würde Ärger geben.» Er sagt, Poilievre sei sich seines Sieges in Alberta so sicher, dass er während des Wahlkampfs nicht einmal hierhergekommen sei, obwohl er aus Calgary stamme. Aber er könnte sich verrechnen: «Diese Wahl ist mit keiner anderen vergleichbar.» Es sei fast, als ob man sich am Vorabend eines Krieges befände.