Mittwoch, Januar 22

Der amerikanische Präsident begnadigt alle verurteilten Capitol-Stürmer. Die pauschale Amnestie – sogar für die damals federführenden Kommandanten rechtsextremer Milizen – sorgt für Erstaunen und Entsetzen.

Die Geschichte werde von den Siegern geschrieben, heisst es. Im Fall des Sturms auf das Capitol am 6. Januar 2021 hat Donald Trump nun die Macht, seine Sicht zu institutionalisieren. Schon wenige Stunden nach seiner Inauguration begnadigte er die damaligen Aufrührer pauschal und deutete den gewalttätigen Tumult zu einer Bagatelle oder einem patriotischen Akt um.

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Es handelt sich um 1500 Personen; für diejenigen, die noch im Gefängnis sitzen, erklärte der Präsident die Strafe für abgeleistet, offene Verfahren werden gestoppt. Trump hatte die Begnadigung schon während des Wahlkampfs in Aussicht gestellt. Allerdings erklärte der Trump-Berater Jason Miller noch am Montagmorgen gegenüber CNN, man werde jeden Fall einzeln prüfen. Auch Trumps Stellvertreter J. D. Vance hatte wiederholt versichert, für schwere Straftäter werde es keine Begnadigung geben.

Auch der Anführer der Proud Boys kommt frei

Damit war insbesondere der Anführer der rechtsextremen Miliz Proud Boys, Enrique Tarrio, gemeint. Obwohl er beim Sturm selbst nicht anwesend war, wurde er als Drahtzieher hinter dem Angriff seiner Truppe identifiziert und erhielt die längste Haftstrafe im Zusammenhang mit dem Capitol-Sturm. Wegen «aufrührerischer Verschwörung» wurde er zu 22 Jahren Gefängnis verurteilt. Dieser Strafbestand ist selten und bedeutet, dass Tarrio und seine fünf Mitkämpfer, die ebenfalls begnadigt wurden, die Regierung stürzen wollten.

Ebenfalls frei kommt der Gründer und Anführer der Miliz Oath Keepers, Stewart Rhodes. Der ehemalige Soldat hatte für den Capitol-Sturm Waffen und Kampfausrüstung erstanden und in einem Hotel gelagert. Er war zu 18 Jahren Haft verurteilt worden. Auch acht weitere Mitglieder der Oath Keepers, die vor allem frühere Polizisten und Soldaten rekrutieren, werden auf freien Fuss gesetzt.

Beim Sturm auf das Capitol wollten die Angreifer die Zertifizierung des Wahlresultats verhindern. Trump hatte den Sieg Bidens nicht anerkannt und die Anwesenden bei einer Rede aufgestachelt. Er selbst schaute sich das gewalttätige Spektakel an seinem Fernseher im Weissen Haus an und weigerte sich stundenlang, irgendetwas zu unternehmen. Der Tumult führte direkt oder indirekt zum Tod von vier Trump-Anhängern und fünf Polizisten; mehr als 140 Polizisten wurden verletzt. Bis heute hat Trump seine damalige Niederlage nicht klar zugegeben. Die Begnadigung, sagte Trump am Montag, beende eine schwerwiegende nationale Ungerechtigkeit, die am amerikanischen Volk begangen worden sei.

Gleichsetzung der Geiseln aus Israel mit den Capitol-Stürmern

Eine parlamentarische Kommission unter der Leitung des demokratischen Abgeordneten Bennie Thompson und der ehemaligen republikanischen Abgeordneten Liz Cheney untersuchte dann die Vorfälle vom 6. Januar. Trump bezeichnete Cheney in seiner Rede am Montag als «Spinnerin». Den Sonderermittler Jack Smith, der Trump wegen seines «Putschversuchs» angeklagt hatte, nannte er «geistesgestört». Joe Biden hatte die Leiter der Kommission in den letzten Stunden seiner Amtszeit vorsorglich begnadigt, um sie so vor einer allfälligen juristischen Verfolgung unter Trump zu schützen. Trump beklagte sich über den Akt und behauptete, die Betreffenden hätten «sehr schwere Verbrechen» begangen.

Anfangs hatte Trump noch behauptet, der Sturm auf das Capitol sei das Werk von Linksextremisten und FBI-Agenten gewesen. Als er dann in den letzten Amtstagen auch innerhalb der republikanischen Partei auf einmal ziemlich isoliert dastand, sagte er, er sei schockiert und tief traurig, und stellte in Aussicht, das diejenigen, die das Gesetz gebrochen hätten, dafür bezahlen würden. Später jedoch verharmloste er den Angriff als eine Art patriotischen Spaziergang und sprach sogar von einem «Tag der Liebe.»

Immer wieder nannte er die verurteilten Aufrührer «Geiseln» oder «politische Gefangene.» Am Montag holte er bei seinem Auftritt in der Capital One Arena Angehörige der israelischen Geiseln auf die Bühne und liess sich von ihnen für die Waffenruhe in Gaza danken. Dann ging er übergangslos zum Thema Capitol-Sturm über und sagte, er werde auch diese Geiseln befreien.

Demokraten und beteiligte Polizisten zeigen sich empört

Nancy Pelosi, die frühere Speakerin des Repräsentantenhauses, bezeichnete die Begnadigung der Aufrührer als «schändliche Entscheidung.» Das Vorgehen des Präsidenten sei eine ungeheuerliche Beleidigung für das Justizsystem und der Helden, die körperliche Narben und emotionale Traumata erlitten hätten, als sie das Capitol, den Kongress und die Verfassung geschützt hätten, sagte sie.

Einer der Polizisten, die am 6. Januar 2021 im Einsatz standen, war Harry Dunn. Er sagte am Montag gegenüber der Presse, die Begnadigungen seien ein Verrat an den Sicherheitskräften, die bei dem Aufstand schwer verletzt worden seien – und gestorben seien. Die Begnadigungen widerspiegelten, «wie Machtmissbrauch aussieht und was wir, das Volk, in den nächsten vier Jahren erleben werden».

Craig Sicknick ist der Bruder des Polizisten Brian Sicknick, der nach der gewaltsamen Auseinandersetzung mit den Angreifern mehrere Herzinfarkte erlitt und kurz darauf starb. Er sagte nach der Begnadigung: «Die Botschaft lautet für mich, dass die USA nicht länger eine Nation sind, die dem Gesetz untersteht. Alles geht. Wenn du eine Lüge laut genug und lange genug wiederholst, wird sie wahr. Das ist es, was Trump tut.»

Ein anderer Polizist, der beim Sturm auf das Capitol angegriffen wurde, ist Daniel Hodges. Er musste damals die Parlamentarier vor Trumps Mob beschützen. Am Montag war er wieder im Dienst – um für die Sicherheit von Trump und seinen Leuten zu sorgen.

Ebenfalls anwesend bei der Zeremonie waren Barack Obama und Trumps früherer Vizepräsident Mike Pence. Am 6. Januar 2021 hatten die Aufrührer einen Galgen vor dem Capitol errichtet. Sie drohten damit, Pelosi, Obama und Pence, der für die Zertifizierung von Bidens Wahlsieg zuständig war, aufzuhängen. David Dempsey, ein Mitglied der Proud Boys, hatte damals den mörderischen Aufruf skandiert. Das Gericht verurteilte ihn zu 20 Jahren Haft. Auch er wurde nun begnadigt.

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