Mittwoch, Januar 8

Vier Jahre nach dem Sturm auf das Capitol verbriefte Kamala Harris am Montag den Wahlsieg von Trump – und ihre eigene Niederlage. Für die Opfer des gewaltsamen Aufruhrs vor vier Jahren war dies schmachvoll.

Am Vortag des 6. Januars 2021 prophezeite der frühere Trump-Berater Steve Bannon den Sturm aufs Capitol : «Morgen wird die Hölle los sein», sagte er in seinem Podcast. Und so kam es dann auch. Von Trump angestachelte und teilweise bewaffnete Demonstranten drangen in das Capitol ein, um die Zertifizierung seiner Wahlniederlage zu verhindern. Rund 140 Polizisten wurden verletzt, einer verstarb am Tag danach, und vier weitere nahmen sich später das Leben. Die Abgeordneten mussten aus dem Sitzungssaal flüchten. Erst mit grosser Verspätung konnte der Kongress am Abend den Sieg für Joe Biden bestätigen.

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Nun – vier Jahre später – zieht lediglich ein Schneesturm über Washington, und Donald Trump weilt zu Hause in Florida. Das Capitol ist weiträumig mit Metallzäunen abgesperrt, es gibt keine grossen Demonstrationen gegen das Wahlresultat. Obwohl Trumps Wahlsieg im November für die Demokraten schwer zu verkraften ist, wollen sie demonstrativ mit gutem Beispiel vorangehen.

Als Vorsitzende der vereinten Kongresskammern kommt Vizepräsidentin Kamala Harris am Montag die undankbare Aufgabe zu, ihre eigene Wahlniederlage zu zertifizieren. Doch sie lässt sich dabei nichts anmerken. Nach nur 36 Minuten sind die Elektorenstimmen aus allen Gliedstaaten geprüft und ausgezählt. Am frühen Nachmittag verkündet die unterlegene Präsidentschaftskandidatin unter dem Jubel der republikanischen Abgeordneten nüchtern: «Donald J. Trump aus Florida erhielt 312 Stimmen.» Nachdem wieder Ruhe eingekehrt ist, fügt die Vizepräsidentin an: «Kamala D. Harris aus Kalifornien erhielt 226 Stimmen.» Kurz darauf ist die Sitzung beendet.

Hoffnung auf eine Vorbildfunktion

Bereits am Montagmorgen veröffentlichte Harris indes ein Video, in dem sie Trump nochmals ins Gewissen redete: «Die friedliche Machtübergabe ist eines der wichtigsten Prinzipien der amerikanischen Demokratie.» Es unterscheide das eigene Regierungssystem von Tyranneien. Deshalb werde sie ihrer verfassungsmässigen und «heiligen» Pflicht nachkommen und das Wahlresultat im Capitol zertifizieren.

Präsident Biden hatte seinerseits in einem Artikel in der «Washington Post» am Vortag gelobt, alles dafür zu tun, um den Respekt für die Tradition des friedlichen Machtwechsels wiederherzustellen. Er habe Trump am Tag der Amtsübergabe am 20. Januar ins Weisse Haus eingeladen und werde auch an seiner Inaugurationsfeier teilnehmen, schrieb Biden. Vor vier Jahren hatte Trump ihm diese Ehre nicht erwiesen.

Der abtretende Präsident warnte indes auch davor, die Geschichte des Capitol-Sturms zu vergessen oder zu verdrehen. «Jede Nation, die ihre Vergangenheit vergisst, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.» Ohne Trump oder seine konservative Partei zu erwähnen, schrieb Biden: «Es sind unablässige Bemühungen im Gange, um die Geschichte dieses Tages umzuschreiben – oder gar auszuradieren.» Amerika könne sich jedoch nicht erlauben, dass die Wahrheit über den 6. Januar verlorengehe.

Gezielte Umdeutung der Geschichte

Ob Trump sich vom demütigenden Beispiel der Demokraten leiten lässt, scheint indes fraglich zu sein. Er und seine Anhänger teilen eine ganz andere Version des Capitol-Sturms. Trump spricht von einem «Tag der Liebe». Rund 1600 Demonstranten wurden bis heute angeklagt oder verurteilt, über 600 von ihnen zu leichteren und schwereren Straftaten. Sie müssen und mussten Gefängnisstrafen von wenigen Tagen bis zu 22 Jahren absitzen. Trump hingegen bezeichnete die Capitol-Stürmer als «Geiseln» und «Patrioten». Er hat versprochen, zumindest einen Teil von ihnen zu begnadigen.

Gleichzeitig forderte Trump kürzlich in einem Interview unter anderem ein Strafverfahren gegen die frühere republikanische Abgeordnete Liz Cheney. Sie trieb im Kongress die Ermittlungen zu Trumps Rolle bei der gewaltsamen Eskalation voran. Alle Mitglieder der parlamentarischen Untersuchungskommission gehörten ins Gefängnis, meinte Trump.

Bei der Amtseinsetzung wird Trump auf jener Bühne vor dem Capitol stehen, wo sich vor vier Jahren die gewaltsamsten Szenen abspielten. Besonders schwer zu ertragen ist dieser Gedanke für die Ordnungshüter, die sich damals dem Angriff auf die Demokratie entgegenstellten und zu Schaden kamen. Einer dieser Polizisten ist Aquilino Gonell, der mit seinen Eltern aus der Dominikanischen Republik einwanderte und später als Soldat im Irak diente. In einem Meinungsbeitrag schrieb er am Sonntag für die «New York Times»: «Mister Trump kehrt mit 78 Jahren in das Amt des Präsidenten zurück, während ich meine Karriere, für die ich mein ganzes Leben arbeitete, wegen meiner erlittenen Verletzungen aufgeben musste.»

Für Gonell handelte es sich bei den verurteilten Demonstranten um «Kriminelle». Ihre Begnadigung wäre für ihn nicht nur eine «Schändung der Gerechtigkeit». Eine frühzeitige Entlassung aus der Haft könne auch eine Gefahr für ihn sein, meint Gonell. Er habe vor Gericht gegen Dutzende der Randalierer ausgesagt, die ihn und andere Polizisten angegriffen hätten. Nun fürchtet er offenbar deren Rache.

Nach eigenen Angaben musste sich Gonell mehreren Operationen unterziehen und sich in Therapie begeben, um sein Trauma zu behandeln. «Was ich bei der Verteidigung des Capitols erlebt habe, war schlimmer als das, was ich im Kampfeinsatz im Irak gesehen habe.» Der 6. Januar verfolge ihn deshalb bis heute: «Jetzt könnte Trump die Gerechtigkeit zunichtemachen, für die wir alles riskiert haben.»

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