Prag muss seine Ambitionen bei der Munitionshilfe zurückschrauben. Diese kommt deutlich teurer als erhofft. Und sie stösst auf unerwartete Konkurrenz und Hindernisse.
Im Februar versprach der tschechische Präsident den Ukrainern 800 000 Granaten. Das war so etwas wie Europas Ehrenrettung. Die EU hatte 2023 eine Million Stück Artilleriemunition versprochen und verfehlte ihr Ziel deutlich, während Kiew auf dem Schlachtfeld immer stärker unter Druck geriet. Petr Pavel, einst höchster europäischer Nato-General und das Oberhaupt eines Staates mit bedeutender Rüstungsindustrie, wollte innert Wochen helfen: Weil die europäischen Kapazitäten überlastet waren, würde Tschechien die Granaten in Drittländern kaufen und in die Ukraine weitertransportieren.
Es dauerte etwas länger. Aber im Juni sind laut dem tschechischen Aussenminister die ersten 45 000 «Pavel-Granaten» im Kriegsland angekommen. Bis im August soll die Ukraine weitere 100 000 Schuss erhalten, bis Ende Jahr gesamthaft eine halbe Million. Dies würde den Bedarf der Verteidiger für immerhin knapp drei Monate abdecken. Aber es ist weniger als ursprünglich zugesagt. Das hat viel mit den Veränderungen auf dem internationalen Waffenmarkt und Europas Politik seit Russlands Invasion im Jahr 2022 zu tun.
Tschechiens Munitions-Initiative mit Geldproblemen
Die ungenügende Finanzierung der Initiative ist dabei nur vordergründig das Hauptproblem. So erklärte der Aussenminister Tschechiens, man werde das ursprüngliche Ziel um mehr als ein Drittel verfehlen, wenn die Partnerländer nicht mehr Geld beisteuerten. Laut Informationen aus Prag haben sich 18 Länder der Initiative angeschlossen und gesamthaft über 1,6 Milliarden Euro beigetragen. Knapp zwei Drittel davon kommen aus Deutschland, den Niederlanden und Belgien.
Czech Ammunition Initiative provides much needed artillery shells to Ukrainian defenders, around half a million by end of this year. Donor countries pay and Czechia with its companies buys it in third countries.
Who is funding it:
Germany: 576 million EUR
Netherlands: 250…— Jakub Janda 楊雅嚳 (@_JakubJanda) July 24, 2024
Laut der Prager Regierung haben noch nicht alle Staaten bezahlt, was ein Grund sei für die Verringerung der Lieferungen. Der wichtigere sei aber die Verteuerung der Munition als Folge der grösseren Nachfrage auf den Weltmärkten. So erklärte der ehemalige Vizeverteidigungsminister Tomas Kopecny, eine der treibenden Kräfte der Munitions-Initiative in Tschechien, die versprochenen 800 000 Schuss kosteten heute doppelt so viel statt der ursprünglich veranschlagten 1,5 Milliarden. Die Preise auf dem internationalen Markt hätten sich seit 2022 vervierfacht.
Sein Land, so Kopecny in einem Interview mit dem Portal «European Prawda», nutze seine guten Beziehungen zu Waffenproduzenten ausserhalb Europas aus sozialistischer Zeit. So agiere es im Rahmen der Initiative entweder direkt als Käufer oder als Vermittler zwischen den Partnerstaaten und den Herstellern. Letzteren Weg habe Berlin für den Kauf von 180 000 Stück 155-Millimeter-Munition gewählt, die nun als Erstes ausgeliefert werden. Die Koordination sei wichtig: «Wenn sich die Alliierten der Ukraine nicht abstimmen, dann konkurrieren sie sich.»
Russland als wichtiger Gegenspieler auf dem Waffenmarkt
Ein weiterer Gegenspieler ist Russland. Präsident Pavel sagte dem ZDF Ende Mai, mit der öffentlichen Verkündung der Munitionsbeschaffung habe er seine Karten aufgedeckt. «Je mehr Seiten davon wissen, desto mehr Konkurrenz gibt es.» Moskau habe dadurch die Gelegenheit bekommen, in jenen Ländern Gegenmassnahmen zu ergreifen, die an beide Kriegsparteien liefern. Um welche Staaten es sich handelt, wird offiziell zwar geheim gehalten. Laut übereinstimmenden Medienberichten kommen die Granaten aber primär aus Südafrika, Südkorea und der Türkei.
Wie Kopecny ausführt, laufen die Deals oft so, dass jene Seite zum Zug kommt, die als erste einen Vorschuss leistet. Da die Nachfrage so gross ist, sind die Hersteller entschieden im Vorteil. «Wenn du langsamer bist, kommst du manchmal zurück, und du hörst: ‹Das war’s, die Waffen sind weg.› Und dann merkst du, dass die Munition an die Russen ging.»
Dieser Umstand erklärt, wieso bis Ende Jahr laut der tschechischen Regierung «nur» 155-Millimeter-Granaten geliefert werden können. Pavel hatte im Frühjahr zusätzlich 300 000 Stück 122-Millimeter-Geschosse angekündigt. Diese kommen in Geschützen aus sowjetischer Produktion zum Einsatz. Das Kaliber 155 Millimeter wird hingegen nur in Waffen von Nato-Ländern verwendet. Moskau hat von solchen Lieferungen nichts. Für die Ukrainer wären die «sowjetischen» Geschosse hingegen sehr wichtig, da sie weiterhin über viele Systeme verfügen, in denen sie zum Einsatz kommen. Die Zahl der Produzenten ausserhalb von Moskaus Einflusssphäre ist aber sehr gering.
Ganz klar präsentiert sich die Lage allerdings nicht, was auch mit Prags widersprüchlicher Kommunikation zu tun hat. So sagt Kopecny, die halbe Million beziehe sich auf Granaten verschiedener Kaliber. Gleichzeitig zur Munitions-Initiative liefen auch weitere Lieferungen; Tschechien arbeite seit 2022 mit Drittländern zusammen, ohne dies in den ersten zwei Jahren angekündigt zu haben, erklärt der Verbindungsmann zur Ukraine. Gesamthaft handle es sich um 1,3 Millionen Stück Munition.
Munition für die Ukraine oft mangelhaft
Die zuweilen überoptimistische Darstellung der Fortschritte – so meinte Pavel im März, das Geld für die gesamte Initiative sei beisammen – trägt der Regierung Kritik der Opposition ein. Sie verlangt mehr Transparenz über das Verfahren und die Profiteure der Waffengeschäfte. Die inzwischen nachgelieferten Erklärungsversuche schaffen diese nicht überall. Sie machen aber klar, wie sehr im Verborgenen Teile der Industrie funktionieren.
Der Wettlauf zwischen Ost und West erlaubt es Produzenten offenbar auch, qualitativ mangelhafte Ware zu verkaufen. Dass viele der Artilleriegeschosse defekt sind, die Russland aus Nordkorea erhalten hat, war bereits bekannt. Nun klagt auch die Czechoslovak Group, die für die Initiativen Prags eine bedeutende Rolle spielt, etwa die Hälfte der in Afrika und Asien gekauften Munition weise Qualitätsmängel auf. Sie müsse zunächst hergerichtet werden. Jüngst erklärte auch der Präsident der Slowakei, wo eine Ukraine-skeptische Regierung an der Macht ist, die von Tschechien gekaufte Munition werde in den Fabriken seines Landes bearbeitet.
Wie viele «Pavel-Granaten» über die bis Ende Jahr garantierten hinaus die Ukraine erreichen werden, muss sich deshalb erst weisen. Der tschechische Ministerpräsident hatte im April 2024 noch 1,5 Millionen Stück innert eines Jahres versprochen. Jüngst kündigte er denn auch eine neue Initiative an, für die Prag nun zusätzliches Geld sucht.
Parallel dazu hat Prag die direkte Zusammenarbeit mit Kiew vertieft: Die beiden Staaten schlossen Mitte Juli ein neues Sicherheitsabkommen ab. Gleichzeitig unterschrieben tschechische Firmen zwei Vereinbarungen, um in der Ukraine Munition und Gewehre herzustellen. Das kleine Tschechien wird damit seiner Führungsrolle unter den europäischen Unterstützern weiterhin gerecht – und garantiert seiner Waffenindustrie lukrative Verträge.

