Montag, Oktober 7

Der Nestlé-Verwaltungsrat unter Präsident Paul Bulcke hat sich abrupt vom langjährigen Konzernchef Mark Schneider getrennt. Was sind die Hintergründe des Zerwürfnisses?

Zwischen Firmen und Konzernchefs ist es manchmal wie bei einer gescheiterten Ehe. Am Anfang läuft alles gut. Man verspürt Honeymoon-Gefühle und feiert gemeinsame Errungenschaften. Aber irgendwann beginnt man sich auseinanderzuleben. Es ist ein schleichender Prozess. Doch es kommt der Punkt, an dem beiden Seiten klarwird, dass man nicht mehr zusammenpasst. Und dann kann es plötzlich schnell gehen.

So ist es nun bei Nestlé passiert. Der Verwaltungsrat unter Präsident Paul Bulcke hat sich vom langjährigen Konzernchef Mark Schneider getrennt. Das Aus erfolgt Knall auf Fall. Das ist für Nestlé höchst ungewöhnlich, denn beim Nahrungsmittelriesen legt man eigentlich viel Wert auf langfristige und stabile Beziehungen.

Doch überraschend kommt die Trennung nur für Aussenstehende. Bereits seit einigen Monaten habe man sich auseinandergelebt, berichten Insider. Die Protagonisten des Zerwürfnisses: Präsident Bulcke und Ex-CEO Schneider.

Ein ungleiches Paar

Die beiden sind sehr unterschiedliche Charaktere. Auf der einen Seite Bulcke: ein jovialer Typ, der nicht um einen lockeren Spruch verlegen ist und das Leben geniesst. Bei persönlichen Treffen kann es sein, dass er in den Raum humpelt, weil er kurz zuvor vom Motorrad gefallen ist.

Bulcke verkörpert aber auch die Nestlé-Kultur wie kaum ein anderer. Zu Beginn seiner Karriere ab 1979 klappert er in Peru und Ecuador die Läden ab, damit sie Nestlé-Produkte ins Sortiment aufnehmen. Jahrzehntelang arbeitet er sich in der Hierarchie hoch. Bulcke leitet verschiedene Ländergesellschaften in Europa und dann die wichtigste Region, Amerika, bevor der belgisch-schweizerische Manager 2008 Konzernchef in Vevey wird.

Ganz anders Mark Schneider, der ihm im Spitzenjob nachfolgt. Der Deutsche mit amerikanischem Pass ist ein blitzgescheiter Stratege, ein eher zurückhaltender Gentleman mit feinem Humor. Statt Motorrad fährt er Elektroauto. Die Herausforderungen des Nestlé-Konzerns durchdringt er mit analytischer Schärfe.

Doch es fehlt ihm der Stallgeruch. Schneider kommt im Jahr 2017 vom deutschen Gesundheitskonzern Fresenius zu Nestlé. Er hat nie an der Front Kitkat-Riegel und Nescafé verkauft. Er weiss das und ordnet sich bescheiden ins Nestlé-Universum ein: «Der Star ist die Firma, nicht ich», erklärt er 2021 im NZZ-Interview. Doch gleichzeitig ist Schneider durchsetzungsstark und krempelt den Nestlé-Konzern um.

Der Honeymoon

Die Geschäftsbeziehung zwischen den ungleichen Partnern funktioniert anfangs sehr gut. Die Ernennung von Schneider ist für Bulcke, der 2017 ins Verwaltungsratspräsidium aufsteigt, auch ein Experiment. Erstmals seit langer Zeit holt Nestlé einen Manager von aussen als Konzernchef.

Aber Schneider ist in dieser Phase genau der Richtige für den Konzern. Der Supertanker Nestlé hatte an Fahrt verloren. Rundum tauchten Schnellboote auf, die mit gesünderen und nachhaltigeren Produkten den Lebensmittelmarkt zu revolutionieren trachten, etwa die Startups Beyond Meat und Oatly mit ihren pflanzenbasierten Fleisch- und Milchersatzprodukten.

Schneider wird zum Tempomacher von Nestlé. Er haucht dem Konzern einen Startup-Geist ein und treibt Produktinnovationen voran. Am liebsten redet er von veganen Shrimps und anderen neuartigen Esswaren aus den Nestlé-Labors. Gleichzeitig wechselt Schneider mit einem grossangelegten Umbau rund ein Fünftel des Konzernumsatzes aus. Er verkauft kriselnde Geschäfte wie Flaschenwasser und Süssigkeiten in den USA. Stattdessen forciert er wachstumsträchtige Kategorien wie Kaffee und Tierfutter – und setzt auf Gesundheitsprodukte und Nachhaltigkeit.

Für den beherzten Umbau wird Schneider von den Branchenanalytikern in den ersten Jahren hoch gelobt. Auf dem Zenit steht er Anfang 2022: Der Aktienkurs erreicht 127 Franken. Nestlé ist das wertvollste Unternehmen Europas.

Die Krise

Doch Beziehungen zwischen Konzernchefs und Firmen sind nicht für die Ewigkeit. Besser trifft es der Begriff «Lebensabschnittspartner».

Bei Schneider und Bulcke beginnt es ab dem Herbst 2023 zu kriseln. Nestlé gelingt es nicht, die Phase der hohen Inflation hinter sich zu lassen. In den USA, dem wichtigsten Markt des Konzerns, lassen die teuerungsgeplagten Konsumenten die teuren Nestlé-Produkte in den Regalen liegen. Der Konzern verliert Marktanteile und kann seine legendäre Preissetzungsmacht nicht mehr ausspielen. Zudem tauchen im Vitamingeschäft ungewohnte Schwächen im Vertrieb auf, weshalb Produkte nicht ausgeliefert werden können. Es gibt einen Milliardenflop mit einem Medikament gegen Erdnussallergien.

Das Symptom des Malaises ist der Aktienkurs. Im Oktober 2023 taucht er unter 100 Franken. In Vevey wird man nervös. Für einen Schock sorgt dann die Reaktion der Anleger auf das Halbjahresergebnis Ende Juli: Der Aktienkurs stürzt um 5 Prozent auf unter 90 Franken ab. Die Geschäftszahlen sind nicht schlecht, aber die Nestlé-Führung hat die eigenen Voraussagen nicht eingehalten. Der Verwaltungsrat interpretiert den Kurssturz als Vertrauensverlust unter den Anlegern.

Bei Bulcke verfestigt sich der Eindruck, dass Nestlé feststeckt. Er traut Schneider nicht zu, dass er den Konzern aus der Talsohle herausführt. Am vergangenen Donnerstag stellt der Verwaltungsrat den CEO zur Rede – und dann geht es schnell: Nach Börsenschluss wird die Trennung von Schneider bekanntgegeben.

Zurück zu den Wurzeln

Präsident Bulcke ist überzeugt, dass Nestlé nun in eine neue Phase kommt. Und für diese Phase braucht der Konzern einen neuen Lebensabschnittspartner.

Dieser heisst Laurent Freixe. Er verkörpert das Motto der neuen Phase: «forward to basics» – oder frei übersetzt «vorwärts zu den Wurzeln». Freixe ist wie Bulcke selbst ein Nestlé-Urgestein. Ab 1986 verdient er sich im Heimatland Frankreich seine Sporen an der Verkaufsfront ab, später leitet er wichtige Regionen wie Europa und Amerika. Er geniesst «street credibility» bei den rund 270 000 Mitarbeitern auf der ganzen Welt.

Freixe soll bei Nestlé eine Rückbesinnung auf das Wesentliche einleiten. Dahinter steht Bulckes Überzeugung: Wenn die Verkaufsvolumen wieder wachsen sollen, muss Nestlé im Massengeschäft reüssieren. Schneiders Innovationen wie pflanzliche Fleischersatzprodukte waren aus dieser Sicht nett, aber sie sind ein Nischenprodukt geblieben. Stattdessen soll Freixe mit den Kernmarken von Nestlé Marktanteile in den Läden zurückerobern. Der Konzern soll wieder zu der effizienten Verkaufs- und Marketingmaschine werden, die er traditionell war. Wie das genau gehen soll, bleibt aber vorerst offen.

Auch Bulcke und Freixe werden an der Spitze von Nestlé nur Lebensabschnittspartner sein. Der Franzose ist schon 62 Jahre alt, Bulcke wird bald 70. Es bleiben ihnen wenige Jahre, um zu beweisen, dass sie Nestlé wieder auf Wachstum trimmen können. Danach muss womöglich ein anderes Duo die richtigen Rezepte finden.

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