Donnerstag, Oktober 3

Als Abwendung von der Nato will Ankara seinen gewünschten Beitritt nicht verstanden wissen. Es wirft aber die Frage auf, ob die Türkei für den Westen ein verlässlicher Verbündeter sei.

Seit Ende August patrouillieren türkische und russische Soldaten wieder gemeinsam im Norden Syriens. Die Wiederbelebung dieser Zusammenarbeit im Bürgerkriegsland, die im Oktober letzten Jahres ausgesetzt worden war, geschah vor dem Hintergrund türkischer Bemühungen, das Verhältnis zum syrischen Machthaber Bashar al-Asad zu normalisieren.

Nur wenige Tage bevor das Aussenministerium in Ankara über die Wiederaufnahme der Patrouillen informierte, hatte die türkische Marine mit der USS «Wasp» im östlichen Mittelmeer eine gemeinsame Übung durchgeführt. Dabei wurde die Interoperabilität zwischen dem amerikanischen Träger für amphibische Angriffe und dem grössten türkischen Kriegsschiff «Anadolu» geübt. Die USS «Wasp» ist seit Juni zur Abschreckung von Angriffen Irans und seiner Verbündeten gegen Israel in der Region im Einsatz.

Erdogan reist an Brics-Gipfel

Während die parallele militärische Zusammenarbeit der Türkei mit Russland und den USA weitgehend unbemerkt blieb, erregte eine andere Meldung über die geopolitische Positionierung des Landes kürzlich grosse Aufmerksamkeit. Ein Sprecher der Regierungspartei AKP bestätigte vergangene Woche offiziell den Wunsch seines Landes, der Staatengruppe Brics beizutreten.

Russland, neben China das wichtigste Mitglied, bestätigte, dass ein entsprechendes Gesuch eingegangen sei. Später teilte Ankara mit, dass Präsident Erdogan im Oktober ans Gipfeltreffen nach Kasan in Russland reisen werde. Die Türkei wäre der erste Nato-Staat, der gleichzeitig der Brics-Gruppe angehört.

Wer hat die Türkei verloren?

All dies wirft im Westen ein weiteres Mal die Frage auf, ob der Nato-Staat Türkei überhaupt ein verlässlicher Verbündeter sei. Ist das Land in Zeiten neuerlicher Blockbildungen nun Teil des Westens oder nicht? Sowohl mit Moskau, gegen das Ankara nie Sanktionen erlassen hat, als auch mit Peking, an das man sich durch die Brics-Mitgliedschaft zumindest wirtschaftspolitisch näher anbände, geht Ankara schliesslich einen Sonderweg. Von der türkischen Kritik an Israel wegen des Kriegs in Gaza oder den guten Kontakten nach Teheran ganz zu schweigen.

Unter englischsprachigen Türkei-Beobachtern läuft diese Debatte unter dem Schlagwort «Who lost Turkey?» – wer hat die Türkei (als Verbündeten des Westens) verloren?

Dabei hatte Erdogan nach der Wiederwahl im Mai 2023 signalisiert, dass er das Verhältnis zu den westlichen Partnern verbessern wolle. Die – freilich längst überfällige – Zustimmung zur schwedischen Nato-Mitgliedschaft einige Monate später schien dies zu bestätigen.

Strategisches Ziel eines unabhängigen Machtpols

Aus türkischer Sicht ist all das kein Widerspruch. Ankara sieht sich selber weniger als Teil des einen oder des anderen Machtblocks, sondern versucht sich vielmehr der Blockbildung zu entziehen oder sogar einen eigenen Pol zu bilden.

Kurz vor der Meldung über das Brics-Beitritts-Gesuch hatte Erdogan erklärt, die Türkei müsse die Beziehungen zum Westen und zum Osten gleichzeitig verbessern, um ein starkes, wohlhabendes und selbstbewusstes Land zu werden. Niemand kann die Türkei verlieren, da sie nur sich selbst gehört, lautet gewissermassen die selbstbewusste Antwort auf «Who lost Turkey?».

Diese strategische Vision eines unabhängigen Machtpols, der bei der eigenen Entfaltung nicht auf die Interessen Dritter Rücksicht zu nehmen braucht, ist zentral für das Verständnis von Erdogans Politik. Dazu gehört der systematische Aufbau einer heimischen Rüstungsindustrie, aber auch die vielen Verweise auf die historische Grösse des Osmanischen Reiches.

Selbst die etwas kuriose Entscheidung, das Land in Fremdsprachen nur noch mit dem türkischen Namen Türkiye zu bezeichnen, ist letztlich Ausdruck dieses Anspruchs. Die Türkei richte sich nicht nach ihrer Umgebung, sondern präge diese vielmehr selber, hiess es damals in der Begründung für den umstrittenen Schritt.

Punktuelle Kooperation

Auf die Geopolitik übertragen, bedeutet dies, dass Kooperation transaktional und somit eher punktuell und interessengebunden stattfindet und weniger einer Bündnislogik folgt. Das heisst, man arbeitet mit der Nato etwa im Schwarzen Meer zusammen, blickt aber in anderen Fragen nach Osten. Von der Mitgliedschaft in der Brics-Gruppe erhofft sich die türkische Regierung unter anderem einen Impuls für den Handel über den sogenannten Mittleren Korridor, der China über Zentralasien und die Türkei mit dem Westen verbindet.

Die USA, so eine Standardreplik auf eine Infragestellung von Ankaras Solidarität mit dem Westen, hätten schliesslich auch nicht auf türkische Sicherheitsinteressen Rücksicht genommen, als sie in Syrien im Krieg gegen den Islamischen Staat auf die kurdischen Volksverteidigungseinheiten gesetzt hätten.

Die Zusammenarbeit ist auch mit anderen Staaten nur punktuell, etwa mit Russland. Zwar betreibt die Türkei regen Handel mit Moskau und trägt dabei zur Umgehung der westlichen Sanktionen bei. Auf die bedeutsame militärische Unterstützung der Türkei für die Ukraine hat das aber keinen Einfluss.

Alleingänge haben ihren Preis

Natürlich stellt sich die Frage, inwiefern die türkischen Möglichkeiten den eigenen Ansprüchen denn auch gerecht werden. Eine transaktionale Politik, wie sie Erdogan betreibt, nützt vor allem dem Stärkeren. In jedem Fall muss man für eine Gegenleistung auch etwas anzubieten haben. In der Schweden-Saga war das dank dem Einstimmigkeitsprinzip der Nato der Fall. Dass die USA im Gegenzug für die türkische Zustimmung ihr Plazet zur Modernisierung der türkischen F-16-Flotte gegeben haben, ist durchaus ein Erfolg für den Präsidenten.

Allerdings hätte die Türkei auch ohne das Erpressungsmanöver ihre Luftwaffe aufrüsten und dazu noch um den Kampfjet F-35 ergänzen können, wenn sie nicht das russische Flugabwehrsystem S-400 gekauft und sich dadurch mit Washington überworfen hätte. Anders gesagt: Alleingänge muss man sich auch leisten können.

Griechenland etwa profitiert stark davon, dass es seit einiger Zeit anstelle der Türkei in Washington als verlässlichster Verbündeter im östlichen Mittelmeer gilt. Ankaras Bemühungen der letzten Jahre, die angespannten Beziehungen zu Saudiarabien, den Emiraten oder Ägypten – und bis zum Gaza-Krieg sogar Israel – zu verbessern, waren auch ein Eingeständnis, dass die türkische Regionalpolitik im letzten Jahrzehnt gescheitert ist.

Auch die Wiederannäherung an den Westen, wie sie nach den Wahlen 2023 angestrebt wurde, ist kein Zeichen der eigenen Stärke. Das Land ist dringend auf ausländische Investitionen angewiesen, und diese sollen aus dem Westen kommen. Der neue Finanzminister Mehmet Simsek weiss, dass neben einer soliden Wirtschaftspolitik auch aussenpolitische Verlässlichkeit förderlich ist.

Gemeinsame Interessen im Schwarzen Meer

Dennoch wird die Türkei unter Erdogan nicht vollständig ins westliche Lager zurückkehren, wie die angestrebte Brics-Mitgliedschaft erneut deutlich macht. Für Nick Danforth und Aaron Stein, zwei Experten der türkischen Sicherheitspolitik, hat sich die – immer etwas pathetische – Frage nach dem «Verlust der Türkei» deshalb bereits seit längerem überlebt. Wichtiger sei es, sich mit der neuen Situation zu arrangieren und dort die Zusammenarbeit zu suchen, wo es gemeinsame Interessen gebe, schreiben sie in einem Beitrag für das Magazin «War on the Rocks».

In sicherheitspolitischer Hinsicht gilt das insbesondere für den Schwarzmeerraum und somit für den Krieg in der Ukraine. Die Türkei profitiert vom Schutzschild der Nato und trägt gleichzeitig mit ihrer strategischen Lage, den starken Streitkräften – den zweitgrössten in der Nato – und ihrer leistungsfähigen Rüstungsindustrie wesentlich zur Sicherheit an der Südostflanke des Bündnisses bei.

Russlands imperiale Gelüste gefährden die Sicherheit aller Schwarzmeeranrainer, auch jene der Türkei. Eine allfällige Mitgliedschaft in der Brics-Gruppe ändert daran nichts.

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