Montag, November 25

Die EU wollte gemeinsam mit der Regierung in Tunis die Migration über das Mittelmeer bekämpfen, doch das Abkommen scheiterte. Nun knüpft Tunesien neue Verbindungen. Dabei überschätze es sich, sagen zwei Experten.

Tunesien hat sich in den letzten Wochen und Monaten diplomatisch zunehmend breit aufgestellt. Aussenminister Nabil Ammar flog nach Moskau, sein Amtskollege Sergei Lawrow lief im Dezember zum Gegenbesuch in Tunis auf. Mitte Januar weihte Chinas Aussenminister Wang Yi eine internationale Diplomatenakademie in der Hauptstadt des nordafrikanischen Landes ein.

Und während der Regierungschef Ahmed Hachani und seine Finanzministerin am WEF in Davos mit EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen und der Direktorin des Internationalen Währungsfonds (IMF) sprachen, reiste der Chefdiplomat Nabil Ammar zum Gipfel der blockfreien Staaten nach Uganda.

Tunesien wolle sich bewusst als Akteur der Blockfreien etablieren, sagt der Politologe Elyès Ghanmi. «Man hat den Anspruch, sich auf der internationalen Bühne als Staat zu positionieren, dessen Stimme sowohl auf der einen als auch auf der anderen Seite zählt.» Doch anders als etwa Indien oder Saudiarabien hat der kleine Mittelmeerstaat nur einen äusserst begrenzten wirtschaftlichen und politischen Einfluss – was Tunesien aber nicht davon abhält, seine Ambitionen aller Welt zu verkünden.

Saied spricht dem WEF die Berechtigung ab

Immer wieder betont Staatspräsident Kais Saied, der im Sommer 2021 die Macht an sich gerissen hatte, die Souveränität seines Landes. Wie er nach dem Besuch seines Regierungschefs in Davos mitteilen liess, hat er «seine Ablehnung sämtlicher Bedingungen oder des Diktats irgendeines Dritten» in der internationalen Zusammenarbeit bekräftigt. Die Erfahrung habe gezeigt, «dass viele, die sich hinter einer sogenannten Unterstützung verstecken, nur die Abhängigkeit unseres Landes und das Leid unseres Volkes vergrössern».

Angesichts der sich verschiebenden Weltordnung habe der Gipfel von Davos im jetzigen Format keine Berechtigung mehr. Das Betonen der eigenen Souveränität gehe einher mit einer klaren Hinwendung zu anderen autoritären Staaten, sagt Elyès Ghanmi. «Aussenminister Nabil Ammar spricht vor allem mit Regimen, denen es an Rechtsstaatlichkeit und guter Regierungsführung mangelt und in denen Korruption endemisch ist.»

Tunesiens Abkehr von Europa und den USA – die historisch wichtige wirtschaftliche und politische Partner sind – macht Hamza Meddeb, der am Carnegie Middle East Center forscht, vor allem an zwei Punkten fest: der Ablehnung des Abkommens mit dem Internationalen Währungsfonds durch Saied und dem gescheiterten Migrationsabkommen mit der EU.

Dies geht aber nicht unbedingt einher mit einer tatsächlichen Abwendung im politischen Alltag: «Tunesien ist in einer extrem kritischen finanziellen Lage und in einer extrem kritikwürdigen Situation, was Menschenrechte und Demokratie angeht», sagt Meddeb. Es wolle deshalb ein Signal an die westlichen Partner senden, dass man sich gen Russland und China orientieren könne, denen man in Sachen Menschenrechte keine Rechenschaft schuldig sei. De facto blieben die Verbindungen nach Europa, dem grössten Handelspartner des Landes, jedoch stark.

Russland fasst in Nordafrika Fuss

Während Russland Tunesien finanziell kaum in grösserem Stil unterstützen kann, hat es laut Meddeb ein grosses Interesse, sich mit seinem «parasitären Verhalten» in Tunesien zu etablieren, wie zuvor schon in Libyen und dem Sahel. In einer Zeit, in der Tunesien Mühe hat, an Devisen zu kommen, nutzt es das Geld, das russische Touristen ins Land bringen, um Öl zu kaufen. «Diese Strategie kommt beiden zugute. Sie erlaubt es den Russen, am Südrand des Mittelmeers, in unmittelbarer Nähe zu Europa, einen Fuss auf den Boden zu bekommen. Und die Tunesier können Druck auf die EU ausüben.»

China finanziert in Tunesien zwar zunehmend Infrastrukturprojekte, weil das Land aufgrund seiner strategischen Lage am Mittelmeer interessant ist. Mit seinen zwölf Millionen Einwohnern, den geringen Bodenschätzen und den wirtschaftlichen Problemen ist das Land aber kaum ein relevanter Handelspartner. Zudem hatte der chinesische Botschafter schon im vergangenen Jahr deutlich gemacht, dass China nur dann finanzielle Unterstützung leiste, wenn das Abkommen mit dem IMF zustande komme. Präsident Saied lehnt dieses jedoch ab, weil er darin eine internationale Einmischung in die tunesische Innenpolitik sieht.

Tunesien überschätze heute seine internationale Bedeutung, sind sich Meddeb und der Politologe Elyès Ghanmi einig. «Wenn man Ambitionen hat, muss man diese mit Mitteln, Ressourcen und vor allem mit strategischem Denken begleiten», sagt Ghanmi. Doch in der tunesischen Diplomatie fehle es an strategischen Überlegungen. «Tunesien behauptet sich als Akteur der blockfreien Welt, des globalen Südens. Aber es gibt keine solide Doktrin, in der klar definiert wird, an welchen Linien man sich orientiert.» Ebenso wenig würden die finanziellen oder personellen Mittel dafür bereitgestellt, eine solche zu entwickeln.

Spionagegefahr aus China

Ghanmi bezeichnet die tunesische Aussenpolitik nicht nur als inkohärent, sondern sogar als teilweise dilettantisch und verantwortungslos. Während Kais Saied nicht müde werde, Europa und den USA vorzuwerfen, sich in innere Angelegenheiten einzumischen, gebe es keinerlei Gegenrede, wenn etwa Algeriens Präsident Abdelmadjid Tebboune verkünde, dass Tunesien die Migrationsfrage dringend lösen müsse.

Ausserdem sei es paradox, Souveränitätsansprüche gegenüber den traditionellen Verbündeten Tunesiens geltend zu machen und gleichzeitig zu akzeptieren, dass die Volksrepublik China eine schlüsselfertige Diplomatenakademie ohne jegliche Sicherheitsgarantie für die Gebäude liefere. «Die tunesischen Entscheidungsträger sind sich des damit verbundenen Spionagerisikos überhaupt nicht bewusst», sagt er warnend.

In der Vergangenheit war China vorgeworfen worden, dass es den Sitz der Afrikanischen Union in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba und die maltesische Botschaft in Brüssel für Spionage nutze. Beide Gebäude waren von China errichtet worden. In der Diplomatenakademie in Tunis sollen dereinst nicht nur tunesische, sondern mittelfristig auch arabische und afrikanische Diplomaten ausgebildet werden.

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