Montag, Oktober 7

Der Schriftsteller Clemens J. Setz wurde zum Fan poetischer Kurznachrichten auf Twitter. Er begann selber zu dichten. Nun hat er die Texte veröffentlicht. Was ihn dazu bewog, schreibt er in einem Gastbeitrag.

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«Der Erde entsprossen viele Köpfe ohne Hälse, nackte Arme irrten hin und her ohne Schultern, und Augen schweiften allein und stirnlos umher.»

So schrieb es Empedokles im 5. vorchristlichen Jahrhundert. Der genaue Kontext dieses hübschen und einleuchtenden Gedankens ist nicht überliefert. Das kommt vor allem daher, dass praktisch das gesamte Werk des Empedokles nicht überliefert ist. Wir kennen nur einzelne Sätze und Satzfragmente aus Papyrusfunden und aus Erwähnungen bei späteren Kommentatoren. Das wäre nicht bedauerlich, wenn nicht die wenigen bekannten Fragmente des Empedokles einen bis heute wahrnehmbaren Zauber ausstrahlen würden. So spürt man den Phantomschmerz der grossen fehlenden Teile, die vermutlich für immer verloren bleiben werden.

Ebenfalls für immer verloren und nur erhalten in den Texten mancher Kommentatoren sind die Beispiele meiner persönlichen Lieblingspoesie in deutscher Sprache der letzten zehn Jahre. Auch der Phantomschmerz, der sich in mir gebildet hat, ist ganz ausserordentlich. Es war um das Jahr 2017, und die ganze Unternehmung nannte sich «Twitter». Es war eine Website, auf der man in relativ strenger Zeichenbeschränkung (140 Zeichen) Nachrichten veröffentlichen konnte. Diese Beschränkung der Mitteilungslänge war natürlich ein grosses und entscheidendes Glück, denn sie brachte, wie alle formalen Vorgaben, die Menschen auf neue Gedanken.

Ursprünglich hatte ich mich, so wie die meisten Autorinnen und Autoren, bloss auf Twitter angemeldet, um dort kräftig anzugeben. Hier, kauf mein Buch. Hier, lies meinen Artikel. Aber schon nach kurzer Zeit fiel mir auf, dass es Accounts gab, die den ganzen Tag, oft buchstäblich von früh bis spät, höchst rätselhafte und wunderbare Sätze von sich gaben und nicht das Geringste mit Promotion und Angeberei zu tun zu haben schienen. Beschämt begann ich, diese Accounts zu studieren. Sie nannten sich etwa «Luni» oder «Computerfan2001» oder «DJ Lotti», verrieten nicht viel über die dahinter stehenden Personen und verwendeten die deutsche Sprache auf eine spektakuläre neue Weise, nämlich: präzise falsch.

Fehlerhaftes Deutsch voller Charme

Beste als ich Palme kaufte und dann mit Kran über Wald abwarf, lautete etwa eine hinreissende Zeile von Luni. Sein Account bestand aus Zehntausenden solcher Sätze. Man konnte zurückscrollen und stundenlang lesen. Das Bild von der abgeworfenen Palme beschäftigte mich lange. Warum verlor es so viel von seinem Reiz, wenn man es in normales, regelkonformes Deutsch übersetzte? Das Beste war, als ich eine Palme kaufte und dann mit einem Kran über einem Wald abwarf. Nicht miserabel, aber die ursprüngliche Variante hat unendlich viel mehr Charme und Zauber.

Dieses «Twitterdeutsch» mit seiner auf den ersten Blick rein parodistisch anmutenden Verwendung falscher deutscher Wortendungen und Deklinationen und mit seinem allgemeinen Mangel an bestimmten und unbestimmten Artikeln erzeugt einen Eindruck von Schnelligkeit und Verletzlichkeit. Jetzt Adlerverlängerung machen einfach ein Sittich langziehen, schrieb Luni.

Noch viel wundersamer waren die Meldungen des geheimnisvollen Accounts Computerfan2001: Als Mein Vater Mich Famals Aus , Dem Ei Gepellt Hat Warf Er Mich Sofort In Ein Mathematik Buch.Ich Sah Mit Schale Auf Dem Kopf ,Die Nummern, hiess es dort. Eine ganze surreale Short Story in einem einzigen Satz. Erzählen wir sie, einfach um ihre Schönheit zu geniessen, einmal kurz nach. Ein Mensch erinnert sich an seine Entstehung. Er wurde nicht normal geboren, sondern schlüpfte, in einer Art von hartgekochtem Zustand, aus einem Ei. Sein Vater klaubte die Schalenstücke von ihm und legte ihn, vermutlich behutsam, sofort in ein Mathematikbuch. Auf dem Kopf des Neugeborenen befand sich noch, vielleicht so wie bei dem bekannten Zeichentrickhähnchen Calimero, eine Mütze aus Eierschale. Und so sass das Wesen nun da und sah: DIE NUMMERN.

Absolut hinreissend. Wer konnte einen solchen Satz einfach so erfinden und dann, begleitet von Hunderten ähnlich elektrisierenden Sätzen, in die Welt hinaustwittern? Wer war dieses Genie Computerfan2001? Mit der Zeit kopierte ich mir immer mehr Lieblingsbeispiele in eine Datei. Und ich las all diese neuartigen Poetinnen und Poeten jeden Tag. Herkömmliche Lyrik in Gedichtbänden schaute ich nur noch selten an.

Jetzt vertikal an Felsen haften wie kleine Seestern, wünschte sich Luni. Was für ein prachtvoller Gedanke! Ich begann sogar, in seiner Struktur zu denken, einen ganzen Tag lang. Jetzt DHL-Abholschein auf Fischmarkt offene Mäuler tote Augen legen. Jetzt in Blumenwiese vor Kirche sitzen gefaltete Hände wie kleine Bussmönch. Jetzt in Riesenradkabine am Boden liegen brüllend und tränenblind weil endlich erwachsen. Lauter naheliegende, aber bei Tageslicht kaum je laut formulierte Gedanken. Erst die von Luni vorgegebene poetische Form verwandelte sie mir in etwas Greif- und Sagbares.

Die Leute löschten ihre Accounts

Und dann, innerhalb eines Jahres, verschwanden viele dieser von mir verehrten Accounts. Einige übertraten irgendeine lächerliche Verhaltensregel von Twitter und wurden zur Strafe gesperrt. Luni etwa schrieb an Elon Musk den Satz «may I see your cock please», was als «Aufruf zur Gewalt» gewertet wurde und zur permanenten Löschung führte. Andere entfernten eigenhändig ihre Accounts, meist aus ziemlich rätselhaften Gründen. Und ich armer Idiot stand auf einmal da, als grösster Fan einer bestimmten Literatursparte, die plötzlich nicht mehr existierte.

Nun ist bekanntlich alles im Internet aus hauchzarten Strukturen errichtet. Eine winzige Irritation – manchmal bloss das reine Vergehen der Zeit – genügt schon, und alles ist für immer verschwunden. All die wunderbaren Geocities-Webseiten aus den neunziger Jahren, auf denen Millionen Menschen ihre selbstgebastelten Homepages über die sonderbarsten Lieblingsthemen präsentierten – alle verschwunden. Um das Jahr 2021 war ein Grossteil meiner Lieblingspoesie verschwunden – und wird auch nie mehr wiederkehren. Ein einmal gelöschter Account kann nach Ablauf von dreissig Tagen in der Regel nicht mehr reaktiviert werden.

Auch in früheren Zeiten wurden bereits literarische Werke zerstört. Dazu gehören die Titel einiger Werke von Shakespeare, Jane Austen oder Herman Melville, die einst existiert haben müssen, aber nun nirgends mehr zu finden sind. Auch hier kann man einen gewissen Phantomschmerz empfinden, aber was beim Verlust der deutschsprachigen Twitterpoesie noch schmerzsteigernd hinzukommt, ist die enorme Geschwindigkeit, die gespenstische Vollständigkeit des Verschwindens.

Anleitung an mich: Speichere, kopiere, heb auf

Innerhalb von ein oder zwei Jahren war praktisch alles weg. Das überfordert, wie ich glaube, selbst den Verstand des zynischsten, illusionslosesten Lesers. Immerhin hat es mehrere Jahrhunderte gedauert, bis die Welt die Werke des Empedokles oder der Sappho so weit verloren hatte, dass wir auf Erwähnungen bei faden Kommentatoren zurückgreifen mussten. Aber die Kulturgeschichte scheint sich insgesamt zu beschleunigen, dieselben Muster der Entstehung und Zerstörung kehren wieder, aber in scheinbar immer höherer Frequenz und Dichte. Vielleicht eine Art von fraktalem Prinzip, das sich in der Zeit selbst auswirkt.

Die wenigen von mir in verschiedenen Dateien aufbewahrten Zitate des einstigen Poesiereichtums habe ich vor kurzem in einem Buch gesammelt, ergänzt durch eine Auswahl meiner eigenen auf Twitter veröffentlichten Gedichte. Papier ist doch um einiges langlebiger als eine Website, vor allem dann, wenn diese Website nun immer schriller und waffenähnlicher in politischen Feldzügen verwendet wird. Es ist auch eine Anleitung für mich selbst: Bewahre mehr von dem, was du liebst. Speichere, kopiere, heb auf. Du fauler Esel.

Nur hier und da lassen sich noch Reste der alten Pracht aufstöbern. Hier ein Satz, den ich vor kurzem in einer anderen Datei fand, lange, nachdem ich das Manuskript für meine kleine Geschichte der Twitterpoesie abgegeben hatte. Es dürfte, sofern nicht digitale Datenrettungswunder ganz anderer Art geschehen, wohl das allerletzte Textbeispiel sein, das sich je aus dem virtuos atomisierten Riesenroman des «Computerfan2001» auftreiben lässt. Es lautet:

Bei Eigigen Von Euch Hat Es Den An Schein Hat Heute Morgen An Scheinend Ein Hündchen Der Unfreundlichkeit Im Wasch Becken Mit Geplanscht –

In der Tat. Das Hündchen der Unfreundlichkeit planscht momentan in allem mit. Wir spüren seinen Blick beim Aufwachen, beim Schlafengehen. Wir hören sein nervöses Schnaufen, sein Magenknurren.

Clemens J. Setz: Das All im eignen Fell. Eine kurze ­Geschichte der Twitterpoesie. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2024. 272 S., Fr. 34.90.

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