Sonntag, September 29

Ein Unternehmen aus Estland verunsichert hiesige Taxifahrer.

Ali wartet, wie so oft, beim Standplatz am Zürcher Hauptbahnhof auf seine Kunden. Seit dreissig Jahren ist er Taxifahrer, hat einiges erlebt. Heute verbringt Ali seine Zeit aber vor allem mit Warten. Denn die Auftragslage ist dünn, und die Konkurrenz ist gross. Viele von Alis Kundinnen und Kunden sind auf App-Dienste wie Uber und Bolt umgestiegen.

Auch Ali bietet seine Fahrten auf Uber und Bolt an. Unfreiwillig, um seine Leerzeiten zu reduzieren. Seine Rechnungen könne er damit zwar bezahlen, sagt Ali, aber gut verdienen würde im Taxigeschäft schon lange niemand mehr. Und seit letztem Monat habe sich die Situation nochmals verschärft.

Das europäische Uber

Mit Bolt mischt ein neuer Anbieter im hart umkämpften Taximarkt mit. Schon vor zehn Jahren, als Uber in die Schweiz kam, boten Hunderte private Fahrer tiefe Preise an und veränderten den Markt praktisch über Nacht. Nun hofft Bolt, das wiederholen zu können. Auch Bolt will die Machtverhältnisse neu sortieren. Damit das gelingt, setzt das Unternehmen auf eine aggressive Preisstrategie – und verärgert damit einen wichtigen Teil des Taxi-Ökosystems.

Bis vor kurzem war Bolt den meisten Zürcherinnen und Zürchern nur aufgrund der türkisfarbenen E-Scooter ein Begriff, die vielerorts auf den Strassen zu sehen sind. Aber Bolt ist eben auch ein Taxidienst. Als solcher funktioniert er wie Uber: Mobilität auf Knopfdruck, gesteuert über eine leicht zu bedienende App.

Der CEO Markus Villig gilt in Europa als jüngster Gründer eines Unicorn, also eines Startups mit einer Bewertung von mehr als einer Milliarde Dollar. Im Jahr 2022 erzielte Bolt einen Umsatz von 1.3 Milliarden Euro und einen Verlust von 72 Millionen Euro. Villig gründete Bolt im Jahr 2013 in Estland. Heute ist das Unternehmen in mehr als 500 Städten, vor allem in Afrika und Europa, präsent. Dass Bolt erfolgreich gegen den viel grösseren Konkurrenten Uber bestehen kann, ist bemerkenswert – und hat gute Gründe.

Wenig Verwaltung, viel Kapital

Die schlanke Organisation erlaube es Bolt, den Kunden und den Fahrern bessere Konditionen anzubieten, sagt der Bolt-Schweiz-Chef Patrick Frei. Denn angesichts der begrenzten Differenzierungsmöglichkeiten gegenüber der Konkurrenz hilft die schlanke Organisation, einen Kostenvorteil zu erreichen. Doch das allein reicht nicht, um ein etabliertes Unternehmen wie Uber herauszufordern.

Markteintritte von Bolt in anderen Städten gestalteten sich wie folgt: Das Unternehmen bietet zu Beginn äusserst günstige Einstiegspreise an, mit denen es auf lange Sicht nicht profitabel wirtschaften kann. Die Grundpreise setzt Bolt am unteren Rand des lokalen Marktes an, hinzu kommen Rabatte von bis zu 50 Prozent. Damit sollen neue Kunden angelockt werden. Später passt Bolt die Preise langsam nach oben an.

Damit auch die Fahrer bei dieser Strategie mitmachen, erhalten sie ab einer bestimmten Anzahl Fahrten pro Woche Bonuszahlungen. Das müsse sein, denn sonst würden die Fahrpreise nicht einmal die Benzinkosten decken, sagt ein Bolt-Fahrer.

Mit dieser Strategie ist Bolt nun in Zürich angekommen. Dank den hohen Rabatten zahlen Kunden für Fahrten in Zürich zurzeit im Schnitt 40 Prozent weniger als bei Uber. Eine halbstündige Fahrt in die Zürcher Agglomeration kostet beispielsweise 24 Franken 68. Die gleiche Strecke wird von Uber für 46 Franken 88 angeboten.

Wie der Schweiz-Chef Patrick Frei sagt, liege der Fokus derzeit darauf, möglichst rasch möglichst viele Fahrten zu vermitteln und damit Nutzer und Marktanteile zu gewinnen. Entsprechen die Zahlen den Erwartungen, ist auch in Zürich mit einer Angleichung an die Marktpreise zu rechnen.

Mittelfristig sei eine Expansion in weitere Schweizer Städte geplant, sagt Frei. Derzeit sei es aber noch zu früh, um über konkrete Pläne zu sprechen. Mit Blick auf den ersten Monat sei er aber zufrieden und zuversichtlich.

Uber gibt sich gelassen

Wenig beeindruckt zeigen sich die Taxiverbände. Sie sehen das eigene Produkt nicht in der direkten Konkurrenz. Zwar gebe es Überschneidungen in der Kundengruppe, schreibt die Taxisektion Zürich, doch die Taxibranche habe bereits Übung, sich nicht auf Preiskämpfe einzulassen. Stattdessen wolle man sich über Zuverlässigkeit und Qualität differenzieren.

Ähnlich nüchtern reagiert Uber. In einer schriftlichen Stellungnahme begrüsst das Unternehmen die Konkurrenz als weitere Option für die Fahrer, um einer selbständigen Tätigkeit nachzugehen. Da Uber laut den Fahrern wegen Bolt die Preise senken musste, ist es aber fraglich, wie gleichgültig das Unternehmen wirklich gegenüber der neuen Konkurrenz ist.

Deutlichere Worte finden die Fahrer selbst: Sie adressieren ihre Kritik direkt an Bolt. «Diese Preise sind gar nicht mehr profitabel. Als würden wir gratis fahren und keine Kosten haben», sagt einer von ihnen. Viele fühlen sich gegenüber den Vermittlern machtlos. Die grossen Unternehmen könnten dank ihrer Popularität und ihren finanziellen Reserven die Preise vorgeben und steuern, sagen sie. Sich selbst sehen sie als die Leidtragenden. Denn aufgrund der schlechten Auftragslage sind sie gezwungen, ebenfalls bei Uber oder Bolt mitzufahren.

Temporäre Probleme

Langfristig stellt sich die Grundsatzfrage, wie die Zukunft der Taxifahrer aussehen wird. Die Mobilitätsexperten Andreas Herrmann von der Universität St. Gallen und Martin Schonger von der Hochschule in Luzern sind sich einig: Die Ride-Hailing-Angebote, wie die Fahrdienste auch genannt werden, sind nur Zwischenlösungen in einer länger andauernden Transformation.

Die Experten glauben, dass in Zukunft autonome Fahrzeuge das klassische Taxi ablösen werden. In einigen Regionen wie zum Beispiel San Francisco (USA) oder Wuhan (China) wird diese Technologie bereits getestet.

Doch all diese Szenarien sind in Zürich derzeit nur ein Gedankenspiel. Noch sind es Menschen, die hinter dem Steuer sitzen. Aber auch ihnen ist bewusst, dass die guten Tage des Taxigeschäfts vorbei sind. «Wenn mich heute jemand fragen würde, ob er Taxifahrer werden sollte, würde ich ihm davon abraten», sagt ein Taxifahrer.

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