Samstag, Dezember 21

Eine Ausnahmeerscheinung in der Schlagerszene: Auch nach seinem Tod ist Udo Jürgens’ Renommee nicht kleiner geworden. Das ist auf seine Musikalität und Ehrlichkeit zurückzuführen.

In den Augen meiner Klassenkameraden hörte ich damals die falsche Musik. Während diese sich für Alice Cooper, Nazareth oder die Rolling Stones begeisterten, kaufte ich mir Singles von Bernd Clüver, Monica Morell und Michael Holm. Und von Udo Jürgens natürlich, dessen «Immer wieder geht die Sonne auf» zu meinen frühesten musikalischen Erinnerungen zählt.

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Seitdem hat mich Udo Jürgens begleitet; mal stand er direkt neben mir, mal sah ich ihm aus der Ferne zu. Doch selbst wenn ich ihn und seine Lieder eine Zeitlang aus den Augen verlor, blieb er mir immer im Sinn. Bis zu jenem 21. Dezember 2014, als er völlig überraschend nach einem Spaziergang in Münsterlingen an einer Herzattacke starb.

Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Udo Jürgens tot? Das war unvorstellbar. Obwohl er nicht als junger Mann starb, wirkte er unverwüstlich, stellte sein Tod eine Art Beleidigung dar. Die Falten in seinem Gesicht standen nicht für Gebrechlichkeit. Sie sprachen für die reichhaltige Erfahrung eines intensiv gelebten Lebens und verrieten trotz aller Melancholie, die seine Mimik manchmal erahnen liess, dass hier bis zuletzt ein nimmermüder, neugieriger Geist regiert hatte.

Suche nach der eigenen Note

Es dauerte lange, bis seine Karriere ins Laufen kam. 1954 nahm er seine erste Platte auf: «Es waren weisse Chrysanthemen» – ein Flop, und was auf diesen Fehlstart folgte, war ebenso wenig der Rede wert. Obwohl Branchengrössen für ihn komponierten und texteten, fehlte den frühen Liedern eine eigene Note. Jürgens sang mit einer bewusst eingesetzten tiefen Stimme, die kaum an den Sänger späterer Jahre erinnert. Von seinen Produzenten genötigt, versuchte er alles nachzuahmen, was damals populär war.

Udo Jürgens reüssierte international bisweilen zwar mit seinen Kompositionen – etwa als Shirley Bassey 1961 sein «Reach for the Stars» aufnahm. Doch seine Interpretenlaufbahn schien in eine Sackgasse zu münden, nachdem die Firma Polydor 1963 seinen Plattenvertrag aufgekündigt hatte. Erst mit Hans R. Beierlein als neuem Manager änderte sich das. Und als Jürgens 1966 im dritten Anlauf mit «Merci Chérie» beim Grand Prix Eurovision de la Chanson gewann, setzte ein Aufstieg ein.

Binnen weniger Jahre avancierte «Udo 70» zum Star, er ging auf Welttourneen und erreichte eine internationale Popularität. Sein Ruhm hatte mit der üblichen Anerkennung, die ein erfolgreicher Schlagersänger erfährt, nichts zu tun und führte dazu, dass sein Auftreten und seine Lieder eine Vielzahl von Deutungen nach sich zogen. Jürgens’ Wirkung rief Feuilletonisten, Musikwissenschafter und Soziologen auf den Plan, die voller Phantasie nach Erklärungen suchten.

An sonderbaren, tiefschürfenden Interpretationen mangelte es nicht. So erläuterte der Musiklehrer und «Sexologe» Günther Hunold ausführlich, worin die erotische Sprengkraft der Jürgensschen Auftritte bestehe: «Udo Jürgens bietet seinen weiblichen Zuhörern das musikalische Äquivalent eines pausenlosen Orgasmus, einer nicht enden wollenden Kette von Höhepunkten.» Jürgens’ Konzerte seien folglich «kollektive Sexualveranstaltungen» und hätten «Orgien»-Charakter. Kurioseres ist zu Jürgens nie geschrieben worden.

Überraschende Titel

Der Manager Beierlein erkannte früh die Gefahr, dass sich die «Marke» Udo Jürgens totlaufen könnte, und verordnete seinem Zögling einen Imagewechsel. Der «Werthers-Leiden-Sänger», der mit «Sag’ ihr, ich lass’ sie grüssen» oder «Sag mir wie» als Spezialist für melancholisch eingefärbte Herzschmerzlieder galt, durchlief einen Wandel. Mit einem Mal sang er auf Englisch («Cotton Fields»), näherte sich halbironisch als «Happy Udo» der slawischen Damenwelt («Anuschka», «Babuschkin») und provozierte mit demonstrativ gesellschaftskritischen Liedern («Lieb Vaterland», «Ein ehrenwertes Haus»).

So verblüffte er sein Publikum über Jahre hinweg mit überraschenden Titeln, bei denen ihm kongeniale Texter wie Wolfgang Hofer oder Michael Kunze zur Seite standen. In den 1970er Jahren gelangen ihm Evergreens wie das Gastarbeiterlied «Griechischer Wein» oder das vor starker Zuckerzufuhr warnende «Aber bitte mit Sahne». Auch Peinlichkeiten wie das Junta-freundliche «Buenos Dias Argentina», das er 1978 mit der deutschen Fussball-Nationalelf einsang, gehörten dazu.

Udo Jürgens strebte als Komponist nach Höherem, doch weder seine Musicals noch seine ambitionierte sinfonische Dichtung «Die Krone der Schöpfung» schrieben Musikgeschichte. Unverbrüchlich hingegen blieben jene Lieder, die ihn als «Geschichtenerzähler» zeigten – wie in «Ich war noch niemals in New York», «Ich schrieb nie ein Lied für Karin» oder «Und dabei könnt’ sie meine Tochter sein».

In seinen letzten Lebensjahren wurde er zum Heiligen des Showgeschäfts, dem das Fernsehen Geburtstagsgalas widmete. Sein Renommee ist seit seinem Tod nicht kleiner geworden. Es gibt viele Gründe, die seine Ausnahmestellung ausmachen. Er war ein Komponist von hohen Graden, der nie an einem Schema festhielt. Er vermittelte stets den Eindruck, für seine Sache zu brennen und sich bis zum Letzten, bis zum Bademantelfinale zu verausgaben. So erlangte er den seltenen Status eines «authentischen» Künstlers. Zynismus, wie er im Schlagerbusiness nicht selten vorkommt, war ihm fremd.

Wo er auftrat, wirkte er so, als sei er ganz bei sich selbst, als gäbe es nur dieses Hier und Jetzt. Das Publikum besitzt dafür ein feines Sensorium, und so verzieh es ihm fast alles. An Skandalen und Aufregungen mangelte es in seinem Leben nicht. Ob er in einen Starfighter stieg, ob er Affären hatte und als Womanizer galt, ob seine Ehen scheiterten, ob er uneheliche Kinder in die Welt setzte, ob er mit den Steuerbehörden in Konflikt geriet, ob er sein Privatleben zur Schau stellte – Udo Jürgens war ein Liebling des Boulevardjournalismus, den er zeitweilig bewusst bediente, um im Gespräch zu bleiben.

Seine Fans jedoch nahmen ihm nichts dauerhaft übel. Er verlor die Sympathie seiner Getreuen nicht und erntete auch bei Intellektuellen wie Thomas Bernhard oder Günter Grass Respekt. Man sah in ihm einen fehlbaren Mann, der nicht versuchte, diesen Eindruck zu kaschieren.

Das Herz ausschütten

Udo Jürgens wirkte in seinen Liedern so, als sänge er von sich selbst, als würde er coram publico sein Herz ausschütten. Da berichtete einer aus seinem Leben, da trat einer ungeschützt vor sein Publikum, das sich deshalb in seinen Liedern «wiederfand». Das Identifikationsangebot war, je älter Jürgens wurde, ein eindeutiges: Schaut her, so bin ich, schaut her, solche Fehler hab ich gemacht, schaut her, so leide ich unter den Missständen der Welt! «Unterhaltung mit Haltung» nannte er das einmal.

Bei alldem blieb Udo Jürgens bis zuletzt ein Suchender, einer, der nicht erwachsen werden, sich nicht auf Erreichtem ausruhen, keine wächserne Altersweisheit ausstrahlen wollte. Das trieb Udo Jürgens an, bis zu seinem letzten Konzert. Sein plötzlicher Tod passte dazu. Schon 1969 nahm er das Lied «Wenn der letzte Vorhang fällt» auf, mit dieser Schlussstrophe: «Wenn der letzte Vorhang fällt, / dann trittst du stumm in die Kulissen. / Bald wird man nichts mehr von dir wissen, / so vergesslich ist die Welt.» Es ist zum Glück anders gekommen.

Von Rainer Moritz erschien 2023 im Reclam-Verlag «Udo Jürgens. 100 Seiten».

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