Kinder können stundenlang schaukeln oder im Kreis fahren, unserem Kolumnisten wird dabei sofort übel. Woran liegt das?
Als meine beiden Töchter noch im Spielplatzalter waren, konnten sie gar nicht genug bekommen vom Schaukeln. «Papa, mach mit!», hiess es dann. Ich tat, wie geheissen – und bezahlte es schon nach wenigen Schwüngen mit einem flauen Gefühl im Magen. Noch viel schlimmer das Sitzkarussell, das man an einem starren Handrad in der Mitte antreibt, während man sich immer schneller darum dreht. Der blosse Gedanke daran reicht für spontane Übelkeitsanfälle.
Reise- oder Bewegungskrankheit, fachsprachlich auch Kinetose, nennt man Übelkeit und Erbrechen als Folge von ungewohnten passiven Bewegungen. Sie befällt uns beispielsweise auf einem Schiff in rauer See, im Auto oder eben auf der Schaukel. Eine Kinetose kann jeden treffen, wenn die Auslöser nur stark genug sind. Aber die Anfälligkeit ist individuell sehr verschieden.
Die gängigste Erklärungshypothese besagt: Es ist nicht die Bewegung an sich, die einen ergrünen lässt. Entscheidend ist vielmehr die Widersprüchlichkeit der Informationen zu Bewegung und räumlicher Lage des Körpers, die das Gehirn von verschiedenen Sinnesorganen erhält.
In einer Schiffskabine etwa liefern die Augen das Bild einer scheinbar unbewegten Umgebung, während der Gleichgewichtssinn im Innenohr und die für die Körperwahrnehmung zuständigen Propriorezeptoren in Muskeln und Gelenken schaukelnde Bewegungen melden. Das löst auf Dauer im Gehirn ein Fehlersignal aus, das sich in Form von Übelkeit bemerkbar macht, besagt die «sensory mismatch theory».
Dazu passt, dass die Symptome auch Computerzocker mit Virtual-Reality-Brille heimsuchen. Hier gaukeln die Augen eine Bewegung vor, während der Spieler still auf dem Stuhl sitzt. Beim Schaukeln oder Karussellfahren bewegt man sich zwar tatsächlich, aber auch hier kann sich das Gehirn keinen rechten Reim auf die eingehenden Reize machen und reagiert mit Übelkeit.
Übelkeit ist auch eine Frage der Lebenserfahrung
Warum aber können Kinder auf dem Spielplatz stundenlang tun, was Erwachsenen sofort Übelkeit bereitet? Das könnte eine Frage der Lebenserfahrung sein: Erwachsene haben unbewusst starke Erwartungen entwickelt, welche Informationen ihre Sinne in bestimmten Alltagssituationen liefern sollten. Aus diesem Grund können sie sich die üble Reaktion auf bestimmte Auslöser auch abtrainieren – nach Wochen auf See vergeht selbst die schlimmste Seekrankheit. Kindern fehlen diese Erwartungen noch weitgehend – und das könnte ihnen erlauben, entspannter mit den widersprüchlichen Sinneseindrücken einer Karussellfahrt umzugehen.
Wirklich belegt ist allerdings auch diese Erklärung nicht. Denn wissenschaftliche Studien, für die bei gesunden Kindern eine Bewegungskrankheit ausgelöst wird, gibt es aus ethischen Gründen kaum. So bleibt auch die Frage offen, warum Kinder auf dem Spielplatz so unempfindlich sind, sich dafür aber im Auto oft schon nach wenigen Kilometern mit den Worten melden: «Fahr mal rechts ran, mir ist schlecht!»
Meinen längst ins Teenageralter vorgerückten Töchtern ist das schon länger nicht mehr passiert. Als sie dagegen kürzlich auf einem Spaziergang doch wieder einmal die Schaukel ausprobierten – natürlich mit altersgerechter ironischer Distanz –, war schnell Schluss: Beide klagten über ein schwummriges Gefühl im Bauch.