Donnerstag, November 13

Schockanrufe, abgelehnte Scheidungsanträge: Mit immer fragwürdigeren Methoden setzt Chinas Regierung Frauen unter Druck.

Die Bar mit dem Namen «Her» ist kaum mehr als ein Loch in der Wand eines schmucklosen Gebäudes. Sie steht in dem Stadtteil von Schanghai, der bis 1943 – fast ein Jahrhundert lang – unter der Kontrolle der Franzosen stand. In der unteren Etage stehen zwei Tische mit Klappstühlen. Scheinwerfer tauchen die Bar in rotes Licht, an den Wänden hängen erotische Fotografien, grösstenteils mit Frauenmotiven.

Der Name der kleinen Bar ist Programm: Im «Her» treffen sich überwiegend Frauen. Donnerstagabends können Besucherinnen auf einer kleinen Bühne kurze Vorträge halten oder Sketche aufführen. «Zu Themen, die die Stellung der Frau in der Gesellschaft betreffen», sagt Fu Bei, «denn wir leben immer noch in einer von Männern dominierten Welt.»

Fu Bei ist die Partnerin der Gründerin der Bar. An einem stickig-heissen Samstagabend sitzt sie auf einem Hocker vor der «Her»-Bar. Die zierliche Frau mit Kurzhaarschnitt trägt eine weit geschnittene Hose in Tarnfarben, dazu ein dunkelgrünes Top.

«Wir sind eine frauenfreundliche Bar», sagt Fu. Den Begriff «Feministin» vermeidet sie in der Öffentlichkeit, auch aus Furcht vor den örtlichen Behörden. Einmal bekam die «Her»-Bar bereits Besuch von der Polizei. «Sie wollten nur nachschauen, was wir machen», sagt Fu. Doch der Besuch sollte wohl auch eine Warnung sein.

Die Behörden misstrauen Feministinnen

Chinas Behörden dulden Bars wie das «Her», aber wie lange noch? Frauen, die auf Selbstbestimmung und Gleichberechtigung pochen, wollen keine Kinder. So denkt jedenfalls die chinesische Regierung, so kurzsichtig eine solche Kausalität auch sein mag.

Chinas Machthaber sind angesichts der rapide schrumpfenden Bevölkerung in höchster Alarmbereitschaft. In Schanghai liegt die Geburtenrate nur noch bei 0,6. Um die Bevölkerung stabil zu halten, muss die Geburtenrate 2,1 betragen.

Die örtliche Stadtverwaltung versucht deshalb nach Kräften, dafür zu sorgen, dass junge Frauen trotz Karrierestreben und bei allem Pochen auf Selbstbestimmung das Kinderkriegen nicht vergessen. Am sogenannten «Tag der Familie» am 15. Mai rief etwa die Direktorin am Zentrum für Fortpflanzung des Zhongshan-Spitals in Schanghai Männer und Frauen dazu auf, zu «heiraten, gesund zu bleiben und im richtigen Alter Kinder zu kriegen».

Die Behörden belassen es nicht bei sanften Aufforderungen

Doch längst belassen es die Behörden nicht mehr bei solchen sanften öffentlichen Aufforderungen. In Schanghai häufen sich die Berichte von jungen Frauen, die direkt von den Behörden kontaktiert werden. Telefonisch appellieren die Beamten an die Frauen, die zumeist Mitglieder der herrschenden Kommunistischen Partei sind oder im öffentlichen Dienst arbeiten, doch bitte Kinder zu gebären. Mütter von unverheirateten Frauen bekommen Anrufe, in denen ihnen bedeutet wird, doch bitte einen Partner für ihre Tochter zu finden.

Aus Sicht der Regierung ist die Praxis nachvollziehbar. Denn seit 2013 ist die Zahl der Eheschliessungen kontinuierlich gesunken, mit entsprechenden Folgen für die Geburtenrate.

«Unsinn» seien solche Anrufe der Behörden, findet Fu Bei und fügt hinzu: «Es wäre besser, wenn die Regierung Paare mit Kindern finanziell unterstützte», ähnlich wie es Deutschland und die Schweiz machten. In Schanghai kostet es umgerechnet mehr als 120 000 Franken, ein Kind bis zur Vollendung des 17. Lebensjahres grosszuziehen, mehr als in den meisten europäischen Ländern, wenn man das durchschnittliche Jahreseinkommen berücksichtigt.

Sterilisierungen und Scheidungen werden erschwert

Offenbar macht die Regierung bei ihren Bemühungen, für mehr Nachwuchs zu sorgen, inzwischen auch vor den Männern nicht mehr halt. So macht in Schanghai derzeit ein Bericht über einen jungen Mann die Runde, der eine Sterilisation vornehmen lassen wollte. Zunächst wurde sein Antrag abgelehnt. Nachdem der Mann Beschwerde eingelegt hatte, musste er ein mehrstufiges Interview-Verfahren durchlaufen. Schliesslich genehmigten die Behörden die Sterilisation.

Seit einigen Jahren erschwert es die Regierung ausserdem Paaren, sich scheiden zu lassen, offenbar immer in der Hoffnung, dass die Frau noch ein Kind zur Welt bringen könnte. Seit Anfang 2021 müssen Paare vor der formalen Trennung eine sogenannte «Abkühlphase» durchlaufen, in der sie getrennt leben. Diese dauert mindestens einen Monat.

Doch während etwa in Deutschland ein Trennungsjahr fester Bestandteil der bestehenden Familiengesetzgebung ist, wendet China noch subtilere Methoden an. So verweigern viele Richter Paaren bei einem ersten Antrag oft die Scheidung, meist mit der immer gleichen Begründung: Der Beweis, dass die Ehe nicht repariert werden könne, sei nicht erbracht.

Auch berichten immer mehr Paare, es werde schwieriger, einen Termin für die Antragstellung zu bekommen. Wie in vielen anderen Bereichen herrscht in China auch bei der Anwendung des Familienrechts Willkürherrschaft.

Die Folge: Nachdem die Zahl der Scheidungen in den nuller Jahren mit der zunehmenden Emanzipierung der Frauen kontinuierlich gestiegen ist, sinkt sie nun wieder. So ging die Zahl der Scheidungsanträge in der Stadt Chongqing im Südwesten Chinas 2021 im Vergleich zum Vorjahr um 44 Prozent auf 72 363 zurück. In Jinan im Osten des Landes sank die Zahl der Anträge im Zeitraum zwischen Januar und November 2021 im Vergleich zum Vorjahr von 25 000 auf 17 300.

Beliebte Lesben-Bar in China musste schliessen

Vor allem in Schanghai, einer der weltoffensten und progressivsten Städte des Landes, geht die Regierung indes immer rabiater gegen die Feministinnen-, aber auch die LGBT-Szene vor. Ende Juni schlossen die Behörden das «Roxie». Über mehr als zehn Jahre trafen sich in der Lesben-Bar Frauen zum Trinken und Feiern.

Am letzten Abend vor der Schliessung herrschte Trauer. Ein letztes Mal tanzten und tranken sie, in den Händen eine riesige Fahne in Regenbogenfarben.

In Online-Foren diskutierten Nutzer gleich, ob es wohl die Sorge der Regierung um den Geburtenschwund sein könnte, die zur Schliessung des «Roxie» geführt habe. «Ich habe keine Ahnung, wohin die Stammgäste des ‹Roxie› jetzt gehen werden», ätzte ein Nutzer laut der Zeitung «Economist», «aber sicherlich nicht nach Hause, um Kinder zu kriegen».

Feministinnen, die Kinder wollen

Doch anders als von der Regierung angenommen gibt es durchaus Feministinnen, die sich ein Kind wünschen.

CC ist ihr Künstlername, ihren wahren Namen möchte die 27-Jährige, die sich als «radikale Feministin» bezeichnet, nicht verraten. Für ein Treffen wählt sie das Café mit dem Namen einer berühmten chinesischen Autorin: Zhang Ailing in der Nanjing Road in Schanghai. Die Romanautorin, die im Westen unter «Eileen Chang» bekannt ist, lebte in den 1940er Jahren in Schanghai und wurde unter anderem mit Erzählungen berühmt, die von den Problemen von Frauen in der Gesellschaft handeln.

Draussen fällt der Regen in schweren Tropfen, doch CC ist bester Laune. «Im Moment möchte ich kein Kind», sagt die junge Frau im bodenlangen blauen Kleid, das an den Stil der ethnischen Minderheiten im Süden Chinas erinnert. Später vielleicht? «Natürlich, warum nicht?»

Ja, früher sei das so gewesen: «Wer sich als Feministin bezeichnete, fügte meist auch gleich hinzu, keine Kinder zu wollen», sagt CC. Das sei aber vorbei, solche Dogmen gebe es im modernen China nicht mehr. Muss man sich als Feministin in einem bestimmten Stil kleiden? «Um Gottes willen», sagt CC und schüttelt vehement den Kopf.

Zum Studieren nach Schanghai

Die selbstbewusste Frau kam vor acht Jahren zum Studieren nach Schanghai. An der Schanghai Law School machte sie einen Abschluss im Fach Journalistik und Kommunikation. Heute arbeitet CC für einen Investmentfonds.

Es sei auch ihr beruflicher Erfolg, der dazu geführt habe, dass sie keine langfristige Beziehung zu einem Mann aufbauen könne, sagt sie. CC hat fünf gescheiterte Beziehungen hinter sich. Das Hauptproblem: Viele der Männer in ihrem Alter wuchsen als verwöhnte und verhätschelte Einzelkinder auf – für CC keine Partner auf gleichem Niveau.

«Ich war immer die Stärkere, auch was die Karriere angeht», sagt sie. Tiefe emotionale Verbundenheit empfindet CC eher mit Frauen. Mit ihnen kann sie ernsthafte und tiefgehende Gespräche führen, beispielsweise über ihre Projekte in der Freizeit.

CC hat kürzlich einen Podcast mit einer Künstlerin aufgenommen, die für ihre Leidenschaft, die Malerei, ihren Job an den Nagel gehängt hatte. «Ich wollte wissen, wie sie das macht», sagt CC. Derzeit produziert sie einen Kurzfilm über ihr Leben während des Corona-Lockdowns in Schanghai im April und Mai 2022. Den Film will CC bei Fu Bei in der «Her»-Bar zeigen.

«Langweilige Männer»

So sind die wahren Gründe dafür, dass sich immer mehr Frauen in den grossen Städten gegen eine Heirat und damit möglicherweise auch gegen ein Kind entscheiden, ihre bessere Bildung und ihr Erfolg im Beruf. Dem gegenüber stehen «langweilige und verweichlichte Männer», wie CC es formuliert.

Letztlich hat sich Chinas Regierung die Misere um die schrumpfende Bevölkerung mit ihrer Politik der vergangenen Jahrzehnte selbst eingebrockt und wird nun mit der gesellschaftlichen Realität konfrontiert.

Zum einen hat die unter Deng Xiaoping eingeführte Ein-Kind-Politik den Bevölkerungsrückgang beschleunigt, und zwar zu einem Zeitpunkt, an dem China noch keine entwickelte Industrienation ist. Zum anderen hat die an sich lobenswerte Modernisierung des Bildungswesens eine ganze Generation erfolgreicher Frauen hervorgebracht, für die Kinder und Familie nicht mehr zuoberst auf der Prioritätenliste rangieren. Dies war von der Regierung sicherlich nicht beabsichtigt.

Doch CC hat kein Mitleid mit den Politikern. «Dass die Bevölkerung schrumpft, interessiert mich nicht», sagt sie. «Und was die Regierung will oder nicht will, schon gar nicht.»

Mit der gesellschaftlichen Realität abgefunden

Mit Chinas neuen gesellschaftlichen Realitäten abgefunden haben sich hingegen manche Mütter in Schanghai. Sie akzeptieren heute den Lebensstil ihrer erfolgreichen Töchter.

Jeden Sonntag treffen sich im Schanghaier Volkspark ältere Frauen, die für ihre Töchter einen Mann zum Heiraten suchen, natürlich auch in der Hoffnung, noch mit einem Enkelkind beschenkt zu werden. Vor sich halten sie Schilder mit Fotos und Beschreibungen der jungen Frauen: Alter, Grösse, Gewicht, Schulbildung, Beruf. Den sogenannten Heiratsmarkt gibt es seit Jahrzehnten.

Am Rande des Parks steht eine ältere, kleine Frau. Sie trägt ein abgetragenes blaues T-Shirt. Ihre Tochter ist 35 Jahre alt, aus chinesischer Sicht eigentlich zu alt, um zu heiraten, und arbeitet für ein deutsches Unternehmen. Doch ihre Mutter gibt nicht auf und sucht einen Mann für sie.

«Natürlich wäre es schön, wenn sie noch heiratete», sagt die alte Frau, «und ein Enkelkind wäre natürlich auch schön. Aber wenn es nicht mehr klappt», sagt sie entspannt und lächelt, «ist das auch kein Unglück.»

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