Freitag, Oktober 11


Nur nicht hetzen

Es gibt Rezepte, denen man Zeit schenken muss; um sie zu planen, ihnen beim Entstehen zuzusehen und sie zu kosten. Der Brasato ist so ein Gericht. Aber auch die Vorfreude auf eine Pasta ist grösser, wenn man ihr mehr Zeit gibt.

Beim Grübeln über seine Relativitätstheorie dürfte Einstein auch an kochende Menschen gedacht haben. Und zwar an solche, die sich gerne Zeit dafür nehmen. Er prophezeite, dass innerhalb einer gewissen Distanz zu einem Schwarzen Loch die Schwerkraft so immens zunimmt, dass sie nicht nur den Raum, sondern auch die Zeit krümmt und beeinflusst. Und nichts mehr entkommen lässt, nicht einmal Licht. Darum wird diese Grenze auch «point of no return» oder Ereignishorizont genannt, und nach Einsteins Vorstellung vergeht die Zeit dahinter unendlich langsam.

Manchmal wünschte ich mir, meine Küche schwebte genau dort im Nichts und die Zeit in ihr würde stillstehen. Nicht nur, um mit «the one and only» endlos darin zu tanzen und dazu Champagner zu trinken. Sondern weil es Speisen und Rezepte gibt, mit deren Planung und Entstehung ich Stunden und Tage und Wochen verbringen kann, ihnen zusehen, daran riechen und sie schmecken möchte.

Musse beim Kochen

In unserer hektischen und durchgetakteten Welt sind für die meisten von uns Fertiggerichte – im Backofen, im Dampf oder in der Mikrowelle ruck, zuck aufgewärmt – zusammen mit unterwegs hastig hinuntergeschlungenem Fast Food Lieferanten für die dringend benötigte Energie geworden. Ohne Strom kein Licht, ohne Kalorien kein tägliches Herumhetzen. Da ist Rückbesinnung bitter vonnöten, und der Winter eignet sich dazu ganz besonders.

Alles geschieht etwas langsamer, vom täglichen Erwachen und Aus-dem-Bett-Fallen über den morgendlichen Lauf durch den verschneiten Wald bis zum Niederschlag, der uns nicht mehr als prasselnder Regen durchnässt, sondern als Schneeflocken sanft und bedächtig zu Boden schwebt.

Unbeeindruckt davon, bombardieren Instagram-Köchinnen schon frühmorgens mit ihren 30-Sekunden-Rezepten unsere verschlafenen Augen. Das erinnert uns daran, dass wir wieder nichts für den Lunch vorbereitet haben. Dann eben wieder Chicken-Nuggets und Fischstäbchen für den hungrigen Nachwuchs. Und für uns Sushi vom Grossverteiler. Dabei wäre es so einfach, etwas vorzubereiten.

Ein Plan soll her

Am Abend eine Handvoll getrocknete Bohnen oder Linsen ins Wasser setzen, und die Vorfreude auf eine köstliche Suppe begleitet einen beruhigend in den Schlaf. Oder nur schon einen Plan haben, der aus einer lang gehegten Idee entsteht. Ein Plan, der zu einem nachhaltigen Lebensstil passt, beispielsweise, nur am Wochenende Fleisch zu essen. Ein Plan, den man ausgiebig mit dem Metzger seines Vertrauens bespricht und bei dem man sich für ein Stück entscheidet, das schon Tage vor dem Verspeisen umsichtige Vorbereitung und Behandlung erfordert.

So beginnen grosse Geschichten über grosse Schmorbraten. Doch nicht nur solche Pièces de Résistance fordern umsichtiges Zeitmanagement, auch die Auswahl und Zubereitung einer simplen Pasta lässt Raum für genussvolle Überlegungen.

Welche Gemüse haben gerade Saison, soll es ein Rezept sein nur aus den aufgestapelten Dingen im Vorratsschrank (wofür die Engländer mit ihrem «staples», den Dingen für den täglichen Küchengebrauch, kein treffenderes Wort hätten finden können), oder lasse ich mich über den Wochenmarkt treiben, um dort den im Übermass vorhandenen Inspirationen den Kochlöffel zu überlassen?

Jedes Gericht gewinnt zudem enorm an Geschmack und kulinarischem Wert, befasst man sich vorher auch eingehend damit, welcher Wein dazu passt. Sorgfältig und ohne Hetze wohlüberlegt auszuwählen, belohnt auch hier die Geduldigen. Zu Hause im eigenen Weinkeller mit dem unschätzbaren Vorteil, keinen gestressten Sommelier neben sich zu wissen, der innerhalb von Sekunden eine Weinentscheidung hören möchte. Denn natürlich können grosse Kochpläne auch an einen Wirtshauskoch delegiert werden. Doch was ist ein Höhepunkt ohne ein inspirierendes Vorspiel, eines, das der Vorfreude unendlich Raum gibt, eines, dessen Regeln wir selbst bestimmen?

Geduld zahlt sich aus

Ob wir den Brasato-Plan einen oder zwei Tage vor dem grossen Moment starten, ist einerlei und haben wir selbst in der Hand. Wichtig ist hier nur, dass er mindestens am Vortag zubereitet wird, er ist nach dem Schmoren so zart, dass er zerfallen würde beim Schneiden. Darum muss er in Folie gewickelt die Nacht im Kühlschrank verbringen, um wieder fest zu werden. Vorbereitet sein, das ist der unentbehrliche Goldstandard beim Kochen.

Auch mir gelingt die Vorbereitung nicht immer wie gewünscht. Nicht nur beim Kochen. Bei Hermès hatte ich den schönsten Schal aller Zeiten für meine Liebste ausgesucht, bitte mit eingesticktem Monogramm. Leider reichte dafür die Zeit nicht bis Weihnachten. Mit leeren Händen dazustehen, war jedoch keine Option, da hätte ich mich vor Scham gleich hinter dem Ereignishorizont verstecken können.

Also habe ich den zweitschönsten Schal auch erstanden, ohne Initialen. Der schönste kam dann drei Monate später, mit eingesticktem Monogramm. Sofort überreichen? Nein. Auch ohne Relativitätstheorie wusste ich: Wenn sich etwas wiederholt, dann ist es Weihnachten. Der Lohn der Geduld? Neun Monate Vorfreude auf ihre Augen, so strahlend wie explodierende Sterne. Einstein hätte seine wahre Freude daran gehabt.

Richard Kägi ist Autor, Foodscout, schreibt Kochbücher und Kolumnen.
Rezepte: auf homemade.ch und Instagram: @richifoodscout.y

Dort erfährt man auch das genaue Brasato-Rezept. Um die Relativitätstheorie ansatzweise zu verstehen, empfiehlt er das Buch «Eine kurze Geschichte der Zeit» von Stephen Hawking.

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