Mode-Evolution
Kaum zurück aus den Ferien, legen wir das Hippie-Häkelkleid und die geflochtenen Sandalen wieder ab. Warum sehen wir auf Reisen eigentlich so anders aus?
Ein Blick auf die Anzeigetafel in der Abflughalle wäre gar nicht nötig gewesen. Wir sahen auch so schon von weitem, welches unsere Schlange sein musste: Menschen mit viel Weiss, vielen Fransen am Körper, ein paar Cowboyboots über den vorgebräunten Beinen, ein halbes Dutzend Frauen trugen Raffia-Taschen und Hippie-Kleider. Ibiza, wir kommen!
Die meisten hatten sich buchstäblich ins Zeug gelegt für diese Reise. Als wären sie auf dem Weg zu einer Mottoparty – die dann allerdings eine oder zwei Wochen dauert. Spätestens an Tag drei auf der Insel hatten auch wir das dringende Gefühl, mehr Weiss und Häkelspitze in unserer Garderobe zu brauchen.
Ferienleichen im Schrank
Die Sehnsucht nach ein bisschen Tapetenwechsel ist nichts Neues. Ferien bedeuten schliesslich, grob übersetzt: raus aus dem Alltag, rein in was auch immer, Hauptsache, Abwechslung. Das gilt genauso für Kleidung. Wer in wärmere Gefilde fährt, denkt sofort an Leinen, leichte Stoffe, luftigere Schnitte, offene Schuhe. Zur Sonne! Zur Freiheit! Nichts mehr, was uns einengt.
Vor Ort nimmt die Abenteuerlust dann manchmal etwas überhand. Kaum jemand, der nicht ein paar Ferienleichen im Schrank hat, die er im Zustand geistigen Leerlaufs unbedingt glaubte kaufen zu müssen. Bunte Kaftane, niedliche Muscheltaschen, Reishütchen, gehäkelte Bikinis. Alles Dinge, die eigentlich mit dem Warnschild «Don’t try this at home» versehen werden müssten, weil sie in ihrem natürlichen Habitat ganz normal, wieder zu Hause aber vollkommen fehl am Platz erscheinen.
Na und? Genau darum geht es in der erklärt schönsten Zeit des Jahres doch: Mal die Seele (und die angezogene Handbremse) baumeln lassen, Neues wagen, ein Stück weit ein anderer sein. Die vielbeschworenen «Ferien vom eigenen Ich». Fern von zu Hause kennt einen schliesslich niemand, man ist quasi inkognito unterwegs. Das ist praktisch für die Fremden, manchmal weniger angenehm für die Einheimischen, weil die Gäste nicht nur bei Garderobe und Essen über die Stränge schlagen.
Die Ferienuniform wandelt sich
Doch es hat sich etwas verändert in den letzten Jahren. Kaum jemand fährt noch einfach so in die Ferien. Man fährt jetzt «richtig» in die Ferien. Individuell geplant, mit einer in diversen Foren top bewerteten Unterkunft, die Google-Landkarte schon vor der Anreise voll mit Stecknadeln an Orten, die es abzuklappern gilt. Waren früher nur Reisebüros die Profis, spielen jetzt alle Experten und «Explorer». Schliesslich sind wir so viel unterwegs wie nie.
Im Jahr 2022 machte jede in der Schweiz wohnhafte Person durchschnittlich 2,6 Reisen mit Übernachtungen und gab dafür 185 Franken pro Tag aus. Da lief der Tourismus nach der Pandemie aber gerade erst wieder an. Für 2024 werden weltweit Rekordzahlen erwartet, «Erlebnisse» stehen in der Bedürfnispyramide ganz weit oben. Dadurch hat sich das Reisen insgesamt professionalisiert – und nicht zuletzt auch das Bild, das wir dabei abgeben.
Brigitte Bardot mit Caprihose und Creolen an der Cote d’Azur, Jackie Kennedy mit Hermès-Kopftuch auf einer Jacht, Elizabeth Taylor im Streifenkleid und Haarband an der Costa Brava – früher gab es in den Klatschmagazinen nur ein paar Paparazzi-Bilder von Prominenten in den Ferien. Heute sehen wir auf Social Media jeden Tag irgendwelchen Leuten bei Städtetrips, Strandferien oder beim Rumhängen am Pool zu.
Braucht es neue Kleidung für die Ferien?
Wir sehen, wo sie die schönsten Selfies machen, weshalb dann Horden von Followern sich gegenseitig auf den Füssen stehen, um an genau denselben Stellen zu posieren. Vor allem sehen wir, was sie wo und wie tragen. Viel Farbe und Muster in Süditalien. Möglichst Minimalistisches in Skandinavien. Mediterranes Flair mit viel Bast auf den Balearen. Wagenradgrosse Strohhüte in Saint-Tropez.
Und offensichtlich muss man in jedem Fall eine dieser grossen Dior-Baumwolltaschen mit Muster auf dem Trolley sitzen haben, die mittlerweile so etwas wie das Jetset-Pendant zum Backpacker-Rucksack sind. Bewusst oder unbewusst, die Bilder färben auf uns ab. Im Kopf entstehen Schablonen für bestimmte Destinationen oder allgemein für «Ferien im Süden».
Auf der Plattform Reddit fragte ein User kürzlich in die Runde, ob es noch jemandem so gehe, dass er sofort neue Sachen kaufen wolle, sobald er einen Trip gebucht habe. Daraufhin antwortete ein anderer, vollkommen selbstverständlich, dass er längst den «When in Rome»-Ansatz verfolge und seine Outfits gemäss der jeweiligen Location aussuche. Es sei fast so, als würde man Kostüme für ein Schauspiel zusammenstellen.
Freuten sich die Leute in den Achtzigern noch darauf, in den Ferien endlich mal lockere Freizeitkleidung anzuziehen, weil sie im Alltag mehrheitlich Bürokluft tragen mussten, schlüpfen sie heute begeistert in ihre Ferienuniformen, weil in der modernen Arbeitswelt fast alle in Zivil unterwegs sind.
Soziologe sagt: «Heute geht es um den Konsum des Reisens»
«Tourismus ist mehr und mehr eine Performance geworden», sagt der italienische Soziologe Duccio Canestrini. Es gehe nicht mehr um die kulturelle Bereicherung von einst, sondern um den Konsum des Reisens. Viele betrieben dafür eine Theatralisierung, die mit dem realen Leben oft nicht mehr viel zu tun habe. «Wir sind alle ständig gestresst, von der Arbeit, von der Familie, wir sehnen uns danach, die graue Realität zu verlassen, und am Ende muss man den Erfolg der Reise mit tollen Fotos und einheitlicher Bräune belegen», meint Canestrini, der an der Universität von Pisa Anthropologie des Tourismus unterrichtet. «Wer keine Ferien macht, ist irgendwie eine komische Person. Reisen steht heute ziemlich unter Erfolgsdruck.»
Die sozialen Netzwerke haben diesen Druck nur noch verschärft. Laut einer Umfrage posten 97 Prozent aller Millennials Bilder von sich, wenn sie auf Reisen sind, drei Viertel davon mindestens einmal am Tag. Für so viele Fototermine braucht es natürlich eine entsprechende Garderobe. War «Ich packe meinen Koffer . . .» früher in jeder Hinsicht ein Kinderspiel, machen ambitionierte Reisende daraus mehr und mehr einen sozialen Staatsakt. Jeder Tag und jede Situation wird generalstabsmässig durchgeplant. Anleitungen und Tipps immerhin gibt es genug.
Aufseiten wie Vogue.com gibt es haufenweise Tipps für Vacation Dressing. Das «New York Magazine» widmete im Juni einen ganzen Artikel dem Thema «Was anziehen bei der Ferien-Date-Night?», damit das richtige Outfit ein Win-win für Hitze und Liebesleben wird. Woraufhin sich der mediokre Reisende jetzt natürlich erschrocken fragt, wie er bloss all die Jahre ohne Date-Night-Kit im Gepäck verreisen konnte. Stand bei sich und dem Partner womöglich gar keine erklärte Date-Night auf dem Programm? Sondern nur lesen und Karten spielen? Was für ein Reinfall.
Die Modeindustrie bedient Fernwehklischees
Die Modeindustrie hat schon lange verstanden, wie gut sich das Reisen kommerzialisieren lässt. Die sogenannten Cruise- oder Resort-Collections waren traditionell für die reiche Klientel, die im Winter auf Kreuzfahrt ging und dafür ja schlecht mit den Sommerkleidern der letzten Saison anreisen konnte. Heute sind sie einfach eine Lieferung mehr, die die Luxusmarken mit noch extravaganteren Modenschauen inszenieren. Für die «normalen» Ferien gibt es dafür jetzt zusätzlich «Holiday Capsules», die meist jedes Fernweh-Klischee bedienen.
Bei Versace finden sich in der aktuellen «La Vacanza»-Kollektion haufenweise Kleider und Accessoires mit Seesternen und Korallen bedruckt. Bei Dioriviera von Dior gibt es gemusterte Seiden-Pareos und Strohhüte mit Logo-Banderole. Louis Vuitton brachte mit «LV by the Pool» im vergangenen Jahr zum ersten Mal eine eigene Badekollektion heraus, inklusive Handtasche mit türkisblauem Logo.
Laut der Branchen-Site Business of Fashion sei «Vacation Wear» schon vor der Pandemie eine wichtige Kategorie gewesen, jetzt noch mehr, weil die Kunden verstärkt nach Kleidung suchten, die ihr Ferienerlebnis noch «intensiviere». Gemeint ist wohlgemerkt keine Trekking oder Safarikleidung, sondern einfach hübsches Zeug, das unter der Sonne gute Laune macht.
Geshoppt werde längst mit Social Media und seinen Followern zu Hause im Hinterkopf. Auch Richard Johnson von Mytheresa bestätigt, dass der Umsatz mit ihren «high summer exclusives», also speziellen Editionen für den Hochsommer, gerade zweistellig wachse, Paula’s Ibiza, quasi die Ferienlinie von Loewe, lege im Vergleich zum Vorjahr sogar dreistellig zu.
Deshalb organisieren die Modehäuser auch all diese Pop-ups in mondänen Ferienorten, Hotels richten immer grössere Boutiquen ein, für den «Ad hoc»- Bedarf in den Ferien. Der Mensch assimiliert sich nun mal gern, das weiss jeder, der längere Zeit im Ausland gelebt hat und mit deutlich anderer Garderobe wieder zurückkam. Findet man den Stil der anderen Touristen am Anfang vielleicht noch befremdlich, gewöhnt sich das Auge innerhalb kürzester Zeit an bunten Schmuck, schulterfreie Oberteile und leuchtende Kaftane.
Nach einer Inkubationszeit von etwa einer Woche will man plötzlich dazugehören. Das ist wie mit der Kokosnuss am Strand: würde man zu Hause nie trinken, aber im richtigen Setting steigt der Appetit. Ausserdem ist dem Vielflieger bei all den Ferien sowieso ab dem dritten Tag ein bisschen langweilig, dann wird halt geshoppt.
Der Kaufrausch geht im Hotel weiter
Im Marbella Club Hotel erzählten die Mitarbeiter von tumultartigen Zuständen, als Chanel dort vor drei Jahren eine Pop-up Boutique eröffnete. Die Dauer-Urlaubenden waren so ausgehungert, dass sie die gesamte Auslage leer kauften. Mittlerweile wurde eine feste Boutique eingerichtet, um die weitere Versorgung zu sichern.
Marie-Louis Sciò, Kreativdirektorin der Pelicano Group, ist im berühmten Hotel ihres Vaters in der Toskana aufgewachsen und hat früh verstanden, «dass der Retail in Hotels lange vollkommen vernachlässigt wurde». Mittlerweile hat sie mit «issimo» sogar einen Online-Shop eingerichtet, der viele Produkte, aber vor allem eines verkauft: Feriengefühl.
Machten sich die Leute früher über die «Vorzeigetouris» in Khaki-Shorts, Socken in Sandalen und Angelhütchen lustig, sind die meisten heute perfekt von Kopf bis Fuss ausstaffiert und sehen fast alle gleich aus. Man weiss jetzt nur nicht so recht, was einem eigentlich lieber war. Zumindest dürfte das Kofferpacken früher um einiges entspannter gewesen sein.