Donnerstag, Oktober 3

Ein Mahl für die Ahnen, ein Fest für die Lebenden: Der Tafelspitz bleibt das Herzstück jeder ordentlichen Beerdigung.

«Mama, essen wir jetzt deinen Opa auf? Er ist doch nun zur Leiche geworden.» Meine Frage hellte die Stimmung sofort etwas auf in der verwandtschaftlichen Runde. Ausser bei der Angesprochenen. Unsere Mutter war ständig darum besorgt, uns Kids wohlerzogen vorzuzeigen. Das gelang ihr nicht immer. Aber bei unserer Salzburger Bergbauern-Verwandtschaft waren wir trotzdem jeweils herzlich willkommen, so selten sahen sie uns, hergereist aus dem fernen Winterthur. Und wer möchte einem Fünfjährigen verübeln, dass er mit dem Begriff Leichenschmaus nicht mehr anfangen kann, als eins und eins zusammenzuzählen?

Klar, der entschlafene Grossvater wurde natürlich nicht verspeist. Wobei es bis vor wenigen Jahrzehnten tatsächlich in einigen Kulturen Brauch war, die Verblichenen mit Haut und Haaren aufzuessen oder deren Asche in nahrhaften Brei zu mischen – im südamerikanischen Urwald zum Beispiel, bei den Wari, einem urzeitlichen Volk. Handelte es sich um Verwandte und Freunde, sprach man von Endokannibalismus. Die meisten der heute noch gängigen Bezeichnungen des Leidmahls deuten mehr oder weniger darauf hin: Totenschmaus, Leichenbissen, Totenmahl, Fellvertrinken (wobei Fell für die Haut stand). In Neapel spricht man noch immer von ­mangiare i morti.

Der Glaube versetzte nicht nur Berge. Bei vielen Völkern trieb er siegreiche Krieger dazu, ihre zu Tode gebrachten Feinde aufzuessen, um sich damit deren Stärken einzuverleiben. Der Nachbar verkohlt wie jedes Jahr sein Fleisch an der Grillparty? Da verkneife ich mir vernichtende Kritik und gute Ratschläge. Insbesondere wenn er mit einem grossen Messer herumhantiert.

Leichenschmaus: Makaber oder Mahlzeit?

In unserer Kultur ist das gemeinsame Essen nach dem Begräbnis eine Ehrung des Verstorbenen einerseits, aber auch ein Dank an die Mittrauernden, die – weil sich Verwandtschaft oft in alle Winde zerstreut – dafür auch von weit her anreisen. So wie wir damals aus der Schweiz in die Salzburger Alpen. Und weil Reisen früher eine oft mühsame, teure und zeitaufreibende Prozedur war, mussten die Hergereisten anständig verpflegt werden, auch um die lange Rückfahrt gut zu überstehen.

Anfang des 19. Jahrhunderts verbot in Deutschland die Obrigkeit die manchmal ausschweifenden Totengelage. Vor allem grosse Familien wurden in den Ruin getrieben, die zahlreich angereiste Verwandtschaft ass sie buchstäblich arm. Um sich – auch ohne den Geldbeutel arg zu strapazieren – trotzdem erkenntlich zu zeigen, luden die Hinterbliebenen von da an zu Kaffee und Kuchen (Totenbeinli wären auch passend), der Beerdigungskaffee war geboren.

Als traurige Zeremonie blieb mir die Bestattung meines Urgrossvaters damals nicht in Erinnerung. Und vor allem nicht als lange. Lag es am Dauerregen? Oder an der Aussicht auf den in köstlicher Fleischbrühe schmurgelnden Tafelspitz, der im nahen Gasthaus auf die Trauergäste wartete? Natürlich mit Semmelkren und reichlich Stiegel, dem lokalen Bier.

Kaum war der Sarg mit Opa in sein nasses und dunkles Grab herabgelassen und die heiligen Worte des Pfarrers verklungen, kam Unruhe auf, die Menge drängte zum Ausgang. Meinen beiden Cousinen, die eben zum mühsam auswendig gelernten Loblied ansetzten, wurde aufgetragen, sich auf die erste Strophe zu beschränken. Tafelspitz wartet nicht.

Tafelspitz statt Tränen

Das Leid(ige)Thema dieses ehemals heidnischen Brauchs blieb natürlich auch von der Satire nicht verschont. Dass über den Tod, ob unerwartet, vorsätzlich oder gar zufällig über Unglückliche gekommen, und die Trauer (oder Freude) darüber, auch gelacht werden kann, darin sind unsere östlichen Nachbarn unerreicht. Wer erinnert sich nicht an die absurde Wiener Krimi-Serie «Kottan ermittelt»?

Vor einigen Jahren erregte das Wiener Künstlerkollektiv «Amie – Freundin der Kunst» einiges Aufsehen mit einer lebensgrossen, aus Leberkäs (bei uns: Fleischkäse) geformten und in einen schwarzen Anzug gekleideten Leiche. Die zahlreichen Besucher, offensichtlich amüsiert ob dieser Performance zum Thema Leichenschmaus, griffen hocherfreut zu, natürlich mit Estragonsenf und Kartoffelsalat. Der wurde aus der geöffneten Brust des Fleischkäse-Toten geschöpft. Makaber, aber den Reaktionen im Youtube-Video nach, durchaus wohlschmeckend.

Trotzdem spielte der Tafelspitz damals in einer geschmacklich anderen Liga. Kaum sassen alle Trauergäste – die so traurig gar nicht mehr aussahen – am Tisch, gab der Pfarrer mit seinem hingemurmelten «Vergelt’s Gott» das Zeichen zum Zugriff auf die dampfenden Schüsseln auf den Tischen. Dass er mit nicht wenig Bier auch den Hingeschiedenen mehrmals verdankte, sprach für seinen lockeren Umgang mit der klerikalen Bescheidenheit. Und jedes Mal, wenn ich dieses grossartige Gericht heute zubereite, denke ich an den Ur-Opa, der auch dank dem letzten Mahl zu seinen Ehren seiner zahlreichen Verwandtschaft immer in bester Erinnerung blieb.

So geht der tröstliche Leichenschmaus:

Für mein Rezept nehme ich den hinteren, dreieckigen Teil des Rinderschlögel. Ich blanchiere einige Rinderknochen und setze sie in 4 Liter kaltem Wasser auf. Sobald das Wasser kocht, Fleisch hinzugeben und bei sanfter Hitze weichkochen. Zwischendurch Schaum und Fett abschöpfen. Je 2 Karotten, Petersilienwurzeln und Pastinaken, 1 halben Lauch und 1 kleinen Sellerie in Stücke schneiden. 2 Zwiebeln halbieren, in trockener Pfanne schwärzen und alles zusammen mit einigen Lorbeerblättern, je 1 Bund Liebstöckelblätter und Petersilie, zur Suppe geben. Nach 2–3 Stunden die Suppe absieben, salzen.

8 Markknochen blanchieren, Knochenmark auslösen. Suppengemüse und Tafelspitz schneiden und in der Suppe wieder erwärmen. Schwarzbrot schneide ich in Scheiben und röste es in etwas Butter an, danach reibe ich es mit einer Knoblauchzehe ein und belege es mit dem ausgelösten Knochenmark. Zusammen mit Apfel- oder Semmelkren und Schnittlauchsauce zum Tafelspitz servieren.

Richi Kägi ist Autor und Foodscout, schreibt Kochbücher und Kolumnen. Seine Rezepte veröffentlicht er auf homemade.ch und richardkaegi.ch. Instagram @richifoodscout.

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