Mittwoch, Februar 5

Wegen einer fehlerhaften Software wurden Hunderte von britischen Postangestellten zu Unrecht des Diebstahls beschuldigt. Manche verloren Hab und Gut.

Christopher Head wollte schon immer für die Post arbeiten. Als Zwölfjähriger begann er, im nordenglischen Dorf West Boldon in der Nähe von Newcastle Zeitungen auszutragen. Nach der Schulzeit arbeitete er dann in der lokalen Postfiliale in einem Gemischtwarenladen. Die Leiterin des Geschäfts sei für ihn wie eine Grossmutter gewesen, erzählt er.

Als die Frau und ihr Gatte in Rente gingen, bewarb sich Christopher Head um die Nachfolge, obwohl er für diesen Schritt im Alter von 18 Jahren noch sehr jung war. Und obwohl ihn die Eltern dazu drängten, ein Studium in Angriff zu nehmen. «Ich wollte die Chance packen, im Dorf mein eigenes Geschäft aufzubauen», erinnert sich der heute 36-Jährige.

Unerklärlich hohe Fehlbeträge

Am Ende eines langen Bewerbungsverfahrens bekam Head vom nationalen Post Office den Zuschlag und von der Bank einen Kredit, um das Geschäft zu kaufen. Über eine Art Franchising erteilt die britische Post sogenannten Subpostmastern eine Lizenz, um den Paket- und Briefversand sowie den Zahlungsverkehr abzuwickeln.

Oft handelt es sich bei den Lizenznehmern um Besitzer von Tante-Emma-Läden, die neben herkömmlichen Waren auch postalische Dienstleistungen anbieten. Die Post stellt ihnen eine gewisse Infrastruktur zur Verfügung – wie das 1999 eingeführte Informatiksystem Horizon der Firma Fujitsu. Horizon steht im Zentrum des grössten britischen Justizskandals der jüngeren Geschichte, der dank einer Fernsehserie im Januar wieder stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt ist.

Mr Bates vs The Post Office | Coming soon to ITV1 and ITVX | ITV

Christopher Head startete 2006 mit Erfolg ins Geschäft. Er überzeugte Firmen in der ganzen Region, ihren Versand mit seiner Postfiliale statt über andere Anbieter abzuwickeln. Damit konnte er Umsatz und Gewinn steigern.

Bald aber stellte er erste Unregelmässigkeiten mit Horizon fest. Immer wieder habe das Informatiksystem bei der Endabrechnung kleine Fehlbeträge ausgewiesen. Head arbeitete allein im Geschäft und konnte kaum glauben, dass er sich so häufig verrechnet haben soll.

Acht Jahre später wies Horizon plötzlich einen derart hohen Fehlbetrag aus, dass Head ungläubig auf den Bildschirm starrte: Das System hatte errechnet, dass in der Kasse 41 000 Pfund (rund 45 000 Franken) fehlen. Diese Summe war höher als sein Brutto-Jahressalär von rund 36 000 Pfund.

Im Safe der Filiale hatten bloss rund 25 000 Pfund Platz, Head konnte also unmöglich eine viel höhere Summe abhandengekommen sein. Und doch markierte die Zahl den Anfang eines Albtraums, mit dessen Folgen Head bis heute kämpft.

Als sich der Fehlbetrag eine Woche später auf fast 100 000 Franken verdoppelt hatte, begann er sich ernsthafte Sorgen zu machen. «Ich wusste, dass ich für Verluste aufkommen musste», erzählt Head. «Aber ich war stets von kleinen Beträgen ausgegangen, etwa wenn man einem Kunden eine Banknote zu viel Rückgeld gibt.»

Christopher Heads Mine verdüstert sich, als er im Video-Interview über die Reaktion der Verantwortlichen in der Zentrale der Post in London erzählt. Sie hätten eine Untersuchung gegen ihn eingeleitet und sein Geschäft einstweilig schliessen lassen. Ohne postalische Dienstleistungen im Angebot fuhr der Gemischtwarenladen hohe Verluste ein.

Subpostmaster bezahlen die Zeche

Die Post kann nach englischem Recht eigene strafrechtliche Verfahren einleiten und vor Gericht Anklagen erheben. Head sah sich mit den Vorwürfen des Diebstahls und der Bilanzfälschung konfrontiert. Im Pub musste sich sein Vater anhören, sein Sohn sei ein Betrüger.

Da Head nachweislich unter den Informatikproblemen gelitten hatte, sah die Post von strafrechtlichen Schritten ab. Doch pochte sie in einer zivilrechtlichen Klage darauf, dass der Subpostmaster den angeblichen Fehlbetrag von 88 500 Pfund zurückerstattet.

Die Verantwortlichen der Fujitsu-Helpline und der Post erweckten den Eindruck, dass Head der einzige Subpostmaster mit Problemen mit Horizon sei. In Tat und Wahrheit aber durchlebten Hunderte von Postmitarbeitern ähnliche Geschichten. Inzwischen ist bekannt, dass die Zentrale der Post von den Mängeln des Systems wusste und Fehlbuchungen nachts sogar heimlich aus der Ferne zu beheben versuchte.

Um den guten Ruf der Firma in Staatsbesitz zu wahren, schoben die Post-Verantwortlichen die Schuld den Subpostmastern in die Schuhe. Rund 900 Frauen und Männer wurden zwischen 1999 und 2015 wegen Diebstahls oder Bilanzfälschung verurteilt, mehr als 200 von ihnen zu Gefängnisstrafen.

Haft wegen Bilanzfälschung

Eine von ihnen ist Janet Skinner. Die 53-Jährige ehemalige Subpostmistress aus der Stadt Hull im Norden Englands ist gezeichnet von ihrem Albtraum. Dennoch gibt sie bereitwillig Auskunft über ihre Erlebnisse, als rede sie sich einen alten Schmerz von der Seele.

«Es machte mich krank, als die Horizon-Abrechnungen nicht mehr stimmten», erzählt sie. Mit Zahlen konnte die alleinerziehende Mutter gut umgehen, sie hatte sich in der Postfiliale von der Sachbearbeiterin zur Chefin hochgearbeitet. Und doch gab Horizon an, dass Janet Skinner eine Summe von 59 000 Pfund schuldig sei.

Es folgten eine Untersuchung und eine Anklage wegen Diebstahls und Bilanzfälschung. Obwohl sie unschuldig war, bekannte sie sich der Bilanzfälschung schuldig, um einer Haftstrafe zu entgehen. Dennoch verurteilte sie der Richter zu neun Monaten hinter Gittern.

Nach dem Urteilsspruch brach Skinner zusammen. In Handschellen wurde sie aus dem Gerichtssaal in eine Zelle geführt und von dort in eine Haftanstalt. Die ersten Wochen wurde sie wegen Selbstmordgefahr isoliert. Sie bestand darauf, dass ihre damals 14- und 17-jährigen Kinder sie nicht im Gefängnis besuchten. «Ich wollte nicht, dass sich diese Erinnerung an mich in ihr Gedächtnis einbrennt.»

Nach dem Ende der Haft pochte die Post weiterhin auf die Rückzahlung des angeblichen Fehlbetrags. Skinners Haus wurde zwangsversteigert, was nur einen Teil der Forderungen deckte. Wegen ihrer Vorstrafe bekundete sie grösste Mühe, einen neuen Job zu finden. Der Stress führte zum Ausbruch einer Nervenkrankheit. Bis heute ist sie von Sozialhilfe abhängig.

Nachdem sich immer mehr betroffene Subpostmaster zu vernetzen begonnen hatten, beteiligte sich Skinner an einer Sammelklage gegen die Post. Diese führte 2019 zum Erfolg, auch wenn die Entschädigungen nach Abzug der Prozess- und Anwaltskosten gering blieben. 2021 erwirkte Skinner die Annullierung ihrer Verurteilung. «Jahrelang hatte ich mich für meinen Namen geschämt, nun erlebte ich ein Glücksgefühl wie bei der Geburt meiner Kinder.»

Hoffen auf Entschädigung

Seit dem Erfolg der Sammelklage von 2019 ist das Ausmass des Skandals bekannt. Doch die Aufarbeitung verläuft harzig. Nach anfänglicher Verzögerungs- und Verschleierungstaktik entschuldigt sich die heutige Post-Führung klipp und klar für das Fehlverhalten. Die früheren Verantwortlichen sind nicht mehr im Amt. Erst unter öffentlichem Druck gab die einstige Post-Chefin Paula Vennells jüngst einen königlichen Orden zurück.

Eine offizielle Untersuchungskommission hört derzeit Zeugen an und soll später Empfehlungen zum weiteren Vorgehen abgeben. Bereits hat die Regierung ein neues Gesetz ins Parlament gebracht, das Betroffenen helfen soll, die Aufhebung ihrer Verurteilungen zu erwirken. Die Post ist bereit, die Horizon-Opfer zu entschädigen. Jüngst haben sich auch die Verantwortlichen von Fujitsu entschuldigt, womit sich auch die Firma an Kompensationen beteiligen könnte.

Christopher Head erklärt, sein Schaden lasse sich kaum beziffern. «Ich habe Einkommen verloren, mein Geschäft, meinen guten Ruf und meine berufliche Zukunft.» Da er nie eine Ausbildung absolviert hat, hält sich Head nun mit Gelegenheitsjobs über Wasser.

Andere Betroffene verloren ihre Häuser, erlebten Trennungen von ihren Ehepartnern oder begingen aus Verzweiflung sogar Selbstmord. Offen ist, ob die Justiz nach Abschluss der offiziellen Untersuchung Strafverfahren gegen ehemalige Post-Verantwortliche einleiten wird. «Die Post hat mein Leben zerstört», sagt Janet Skinner. «Aber noch hat niemand die Leute in den Chefetagen zur Rechenschaft gezogen.»

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