Donnerstag, Januar 9

Daniel von Grünigen war allein unterwegs, als er stürzte, sich ein Schädel-Hirn-Trauma und etliche Knochenbrüche zuzog. Nun erzählt er erstmals öffentlich, wie er dem drohenden Tod entging.

«Was soll schon schiefgehen?», dachte sich Daniel von Grünigen, als er im April 2022 mit seinen Tourenski zum Säntis aufbrach. Ein Kollege hatte ihm abgesagt, weil er glaubte, dass im Talgrund zu wenig Schnee liege. Aber eine Mitarbeiterin der Säntisbahnen versicherte von Grünigen, dass in den letzten Tagen Skifahrer die Abfahrt nach Wasserauen geschafft hätten.

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Von Grünigen zog also allein los, der erfahrene Berggänger aus Zürich war nicht zum ersten Mal am Säntis. Was in den nächsten Stunden passierte, schildert er jetzt erstmals öffentlich. Es ist die Geschichte einer wundersamen Rettung. Und ein Lehrstück über Optimismus, Beharrlichkeit und Geschick. Von Grünigen überlebte, weil er in den härtesten Momenten seines Lebens die Fassung bewahrte.

Der Sturz passierte unterhalb der Wagenlücke, auf etwa 1900 Metern Höhe. Von Grünigen, ein emeritierter Professor für Elektrotechnik und digitale Signalverarbeitung an der Berner Fachhochschule, zu jenem Zeitpunkt 74 Jahre alt, hielt vor einem buckligen Steilhang inne. Der Schnee war unerwarteterweise pickelhart gefroren. «Achtung, Gefahr», dachte er sich, doch es war bereits zu spät. Im nächsten Moment stürzte von Grünigen kopfüber ein Steilstück hinab, eine blutige Spur auf dem Schneefeld hinterlassend.

Notruf scheiterte an Funkloch

Als er Halt fand, hatte er Ski und Stöcke verloren. Der Versuch, aufzustehen, scheiterte an Schmerzen im linken Knie, die er als höllisch empfand. Von Grünigen versuchte, Hilfe zu rufen, aber weder die App der Rettungsflugwacht Rega noch der Notruf funktionierten: Er befand sich in einem Funkloch. Weil bereits Nachmittag war, konnte er nicht mehr damit rechnen, dass andere Alpinisten vorbeikommen würden. Vergeblich versuchte von Grünigen, seine Lawinenschaufel als Krücke oder Schlitten zu verwenden, um bergabwärts einen Ort mit Handyempfang zu erreichen. Bald wurde ihm klar: Er würde die Nacht in der Kälte verbringen müssen.

In den Bergen zu erfrieren, ist ein grausamer Tod, und er passiert alles andere als selten. Seit 2001 kamen allein in der Schweiz mindestens vierundvierzig Menschen ums Leben, bei denen klare Hinweise auf einen Erfrierungstod vorlagen. Im März 2024 starben sechs Skitourengänger an der Tête-Blanche. Rettungsversuche scheiterten an einem Sturm auf der Alpensüdseite und der Lawinengefahr. Die letzte Leiche wurde erst im August entdeckt und geborgen: Es war die Frau, die den Notruf abgesetzt hatte.

Von Grünigen setzte alles daran, sich zu schützen. Trotz dem verletzten Knie gelang es ihm, in liegender Position ein Schneeloch zu graben. Er bedeckte sich mit seiner Isolationsdecke, die goldene Seite nach oben, die silberne nach unten, so hatte er es im Erste-Hilfe-Kurs gelernt. Dann folgte eine grosse Stille – und die Gedanken begannen zu kreisen.

«Ich hatte nicht das Gefühl, sterben zu müssen, aber phasenweise ging es in diese Richtung», sagt von Grünigen. Für den folgenden Tag war gutes Wetter angesagt, was ihn glauben liess, dass zu 90 Prozent andere Skitourengänger die Abfahrt in Angriff nehmen würden. Umgekehrt ausgedrückt hiess das zwar: Mit einer Wahrscheinlichkeit von 10 Prozent würde niemand vorbeikommen. Von Grünigen fokussierte sich konsequent nicht auf die zehnprozentige Möglichkeit, unentdeckt zu bleiben. Sondern auf die neunzigprozentige Chance, gerettet zu werden.

Als die Sonne unterging, begann er zu frieren: «Ich schlotterte am ganzen Körper, es ging wie eine Welle vom unteren Rücken bis zu den Schultern.» Die Temperaturen fielen auf geschätzte minus acht Grad Celsius. Im Gesicht, wo er ungeschützt war, zog er sich Erfrierungen ersten Grades zu.

Von Grünigen dachte an das Unglück 2018 in der Nähe der Cabane des Vignettes, sieben Skitourengänger kamen dort ums Leben. Aber er vergegenwärtigte sich, dass diese in einen Sturm geraten waren, während er bei windstillen Verhältnissen in seinem Schneeloch sass. «Ich behielt die Zuversicht, den morgigen Tag zu erleben», sagt er. In den Sinn kam ihm auch die Geschichte eines Bergsteigers, der nach einem Sturz in einer Gletscherspalte überlebt hatte: «Wenn der das zustande brachte, kann ich das auch.»

Die Nacht war sehr unangenehm. Von Grünigen schlotterte immer stärker. «Aber ich empfand es nicht als höllisch», sagt er. «Irgendwie herrschte da oben am Berg eine friedliche Stimmung.» In einem besonders heiteren Moment erinnerte er sich, einmal auf einer Liste von Dingen, die er noch erleben möchte, notiert zu haben: eine Nacht im Freien verbringen. «Da dachte ich mir, jetzt ist die Gelegenheit gekommen. Diesen Punkt kann ich abhaken.»

Zeitweise verfiel er in einen tranceartigen Zustand, allerdings ohne einzuschlafen: Das wäre, wie er wusste, tödlich gewesen. Jede Form panischer Angst blieb aus, worüber er sich in seiner prekären Situation selbst wunderte. Womöglich war es ein wirksamer Selbstschutz. Dass seine Partnerin nicht wusste, wo er sich befand, plagte ihn am meisten: «Für sie war es der Horror.»

Im Morgengrauen kam von Grünigen der rettende Gedanke. Auch in seiner Zürcher Wohnung ist bisweilen der Handyempfang beim Telefonieren schlecht, SMS erreichen ihre Empfänger jedoch zuverlässig. Sich daran erinnernd, tippte er um 7 Uhr 26 an die Rega-Notfall-Nummer 1414: «Unfall oberhalb Messmer bitte Helikopter senden.» Und an seine Freundin: «Bin leicht verletzt. Habe Rega alarmiert.»

Die Rettungsflugwacht schickt ihm sofort mehrere Gegenfragen: «Wie ist das Wetter bei euch? Wie erkennen wir euch und was ist passiert?» Und etwas später: «Welche Farbe tragen Sie?» Von Grünigen sah die SMS zunächst nicht, oder sie kamen erst verzögert an. Doch er hörte das Rattern des Helikopters, winkte mit seiner roten Schaufel, und die Retter fanden ihn.

Seine Körpertemperatur betrug noch 34,8 Grad

«Kontakt zu Patient um 7 Uhr 57», heisst es im Rega-Protokoll. Nur 20 Meter neben von Grünigen konnte der Helikopter landen. Die Körpertemperatur des Verunglückten lag noch bei 34,8 Grad. Das ist nicht akut alarmierend, und doch hätte nicht mehr viel Zeit vergehen dürfen, bevor sein Zustand kritisch geworden wäre.

Erst im Kantonsspital St. Gallen wurde von Grünigen bewusst, wie knapp er davongekommen war. Ein Notfallarzt berührte verschiedene Körperstellen – von Grünigen schrie jedes Mal auf vor Schmerz. Er wurde ans Zürcher Universitätsspital verlegt, wo unter anderem ein Schädel-Hirn-Trauma, ein Knochenbruch am oberen Ende des Schienbeins, mehrere Frakturen in der Nähe beider Handgelenke, eine Rippenserienfraktur und eine akute Niereninsuffizienz festgestellt wurden. Auch die linke Lunge war durch eine der gebrochenen Rippen beschädigt.

Von Grünigen staunte, wozu er in seinem Zustand in der eisigen Nacht in der Lage gewesen war. Nur seinem Überlebenswillen hatte er es zu verdanken, dass er trotz der Vielzahl von Verletzungen ein Schneeloch graben und es sich dort verhältnismässig bequem machen konnte. «Sich selbst retten zu wollen, ist ein Antrieb, der ungeahnte Kräfte freisetzt.»

Er litt tagelang an hohem Fieber und musste dreimal operiert werden, doch nach dem einwöchigen Aufenthalt im Universitätsspital Zürich ging es aufwärts. Die Ärzte sagten von Grünigen voraus, dass er acht bis zwölf Wochen in der Reha verbringen müsse. Aber bereits nach fünf Wochen fühlte er sich wieder fit. Heute kann er sich wieder bewegen wie gewohnt, nur auf Liegestütze verzichtet er wegen der Verletzungen an der linken Hand. Von Grünigen sagt: «Ich hatte unwahrscheinliches Glück.»

Ein Experte für mobile Kommunikation der ETH Zürich bestätigte ihm später, dass SMS bei schlechten Verbindungen tatsächlich die höchste Übermittlungswahrscheinlichkeit böten. Sie würden über einen separaten Kommunikationskanal gesendet und daher nicht durch andere Apps beeinträchtigt.

Am Tag nach der Bergung meldete sich die Rega nochmals. Der Sohn des Sanitäters war nun selbst vom Säntis abgefahren und hatte von Grünigens Ski samt Stöcken geborgen. Er könne sie gelegentlich abholen, teilte man dem Verunglückten via SMS mit: «Wir hoffen fest, dass es Ihnen bald wieder besser geht.»

Von Grünigen braucht die Tourenski seither nur noch für leichtere Touren. Seine Ausflüge in die Berge sind weniger riskant geworden, er ist jetzt gerne auf vielbesuchten Wandergipfeln wie der Rigi oder dem Pilatus unterwegs. Der 77-Jährige sagt: «Meine Abenteuerlust ist gesättigt.»

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