Die Industriestadt Perm am Ural galt lange als «Hauptstadt» der Bürgeraktivisten. Dann kamen Covid, der Krieg und die Unerbittlichkeit des Kremls. Einige Unentwegte machen weiter – und denken an den «Tag danach».
«Die Region Perm ist mit dem Präsidenten» – das fassadenfüllende Plakat in den Farben der russischen Trikolore prangt auf einem Gebäude am Flughafen und am Prospekt der Komsomolzen mitten in der Stadt am westlichen Ural. Die Zeiten, da selbst der örtliche Gouverneur auf ein Porträt Wladimir Putins in seinem Amtszimmer verzichten konnte, sind vorbei. Es gibt nur eine massgebliche politische Kraft im Land.
Perm, einst Ausgangspunkt für die Eroberung Sibiriens und eine der Geburtsstätten der russischen Bergbau-, Metall- und Rüstungsindustrie, hatte drei Jahrzehnte lang den Ruf, «Hauptstadt der Zivilgesellschaft» in Russland zu sein. Hier gab es so viele Bürgerinitiativen wie kaum anderswo und ein politisches Klima, das ein günstiges Umfeld dafür bot. «Das ist nur noch ein Mythos», sagt Igor Awerkijew.
In der späten Sowjetzeit stand er an den Anfängen gesellschaftlichen Aufbegehrens in der Stadt, jahrelang war er eine zentrale Figur derer, die für ihre Rechte als Bürger eintraten. Vor einigen Jahren zog er sich aus der ersten Reihe zurück. Er sei im «Sabbatical» – auf unbestimmte Zeit. Was ist an gesellschaftlichen Initiativen überhaupt noch möglich in Russland, wenn selbst in Perm einer wie Awerkijew in den Modus des Überwinterns gewechselt ist?
Bedürfnis nach Alternativen
In Russland wird von diesem Freitag bis am Sonntag der Präsident gewählt. Eine Wahl im herkömmlichen Sinn ist das Verfahren nur schwer zu nennen. Putin dominiert das Kandidatenfeld, er ist auf allen Kanälen ständig präsent, und selbst die drei Männer, die ebenfalls kandidieren, treten nicht wirklich gegen ihn an. Ihre Kampagnen sind praktisch unsichtbar. Eine organisierte politische Opposition gibt es nicht mehr. Wer sich politisch betätigt ohne das Plazet des Kremls, wird systematisch behindert oder mundtot gemacht.
Die Versuche des gemässigten liberalen Politikers Boris Nadeschdin und der Lokalpolitikerin Jekaterina Dunzowa, ins Rennen um die Präsidentschaft einzusteigen und eine echte Alternative zu Putin zu bieten, scheiterten. Aber die Reaktion der Gesellschaft darauf zeigte, dass es Bedarf nach Veränderung gibt. Und nach dem Tod Alexei Nawalnys brauchte es keine Aufrufe dazu, Blumen an improvisierten Mahnmälern niederzulegen. Die Menschen, denen das ein Bedürfnis war, begaben sich spontan dahin – nicht zur Freude des Regimes.
Jedes gesellschaftliche Engagement ist ein Risiko geworden. Die Spielräume haben sich verengt. Wer etwas tun oder sich auch nur äussern will, muss sorgsam abwägen, wie weit er gehen kann. Das gilt auch in Perm. Manch ein Gesprächspartner ist zum Treffen mit einem ausländischen Journalisten nur bereit, wenn niemand davon erfährt. Die Vorsicht ist nicht unbegründet: Unversehens tauchen Provokateure auf, die dem Korrespondenten vor laufender Kamera Antworten oder zumindest eine unwirsche Reaktion entlocken wollen.
Exodus der Engagierten
Viele Akteure von einst haben Perm ohnehin längst verlassen. Awerkijew schätzt, dass rund siebzig Prozent der gesellschaftspolitisch besonders Aktiven seit 2022 ausgereist sind. Sie sind jetzt in Deutschland, Frankreich, Amerika, im Südkaukasus oder in Zentralasien. Geblieben sind ein paar Anwälte und vor allem diejenigen, die sich um soziale Projekte und Wohltätigkeit kümmern – und einige wenige, die nichts abschreckt und die noch immer das machen, was sie für richtig halten. Auch sie geraten immer mehr unter Druck. Am Donnerstag gab es bei verschiedenen Aktivisten in Perm und der Provinzstadt Beresniki Hausdurchsuchungen.
Ein Bequemer ist Awerkijew nie gewesen – nicht in den frühen achtziger Jahren, als er wegen aufmüpfigen Verhaltens von der Universität flog, und auch später nicht, als er provokative Aufsätze schrieb und den Westen für seinen Blick auf Russland kritisierte. «Lasst uns in Ruhe, hört auf, uns zu belehren, wir leben besser, als ihr denkt» – damit eckte er nicht nur bei den Adressaten an, sondern auch bei manchen Mitstreitern. Am Aufruf dazu, für sich selbst zu sorgen, hält er fest. Aber er sagt auch: «Wir sind derzeit alle Objekte, keine Subjekte mehr.» Das bestimmt den Rahmen dessen, was noch möglich ist.
Zerschlagene Netzwerke
Perms gesellschaftlicher Aktivismus erlitt einen doppelten Schlag: Erst kam die Pandemie, dann der Krieg. Covid führte zu einer Atomisierung der Gesellschaft und verhinderte Veranstaltungen und Zusammenkünfte. Bis im Februar 2022 der Krieg begann, hatte sich das noch nicht wieder vollständig regeneriert. So brach, wie Awerkijew meint, Perms Tradition ab. Dazu kamen strukturelle Veränderungen. Die erste Generation der Aktivisten, zu der auch Awerkijew zählt, zog sich allmählich zurück. Die nächste Generation erwies sich als schnelllebiger und politisierter – und viele waren nach dem 24. Februar 2022 bald weg.
Über die Zeit hatte sich die Tätigkeit rund um die Verteidigung der Bürgerrechte immer mehr segmentiert: Organisationen wie Golos begannen sich um Wahlbeobachtung zu kümmern, OWD-Info um die Rechte von Festgenommenen, wieder andere um Folter in Gefängnissen. Awerkijews eigene Organisation, die Permer Bürgerkammer, erwies sich als zu breit aufgestellt.
Zugleich wurde es immer schwieriger, Tätigkeiten im Bereich der Menschen- und Bürgerrechte von der Politik zu trennen. Aus der Sicht des Staates wird eine Vereinigung von Bürgern nicht als Chance, sondern als politische Bedrohung wahrgenommen. Alle politischen und gesellschaftlichen Organisationen, die sich horizontal in ganz Russland vernetzt hatten, zerschlug das Regime in den vergangenen Jahren: Nawalnys «Stäbe» in den Regionen, Memorial mit seinen Historikern und Bürgerrechtsaktivisten, Golos und die russischen Ableger von Greenpeace und WWF. Memorial Perm war einst eine starke, weit über Russland hinaus geachtete Organisation. Jetzt sitzt eine ehemaliges Mitglied in Haft, die meisten anderen früheren Führungsfiguren sind im Ausland.
Umweltschützer im Vorteil
Zu denen, die noch einigermassen ungestört arbeiten können, gehören Umwelt- und Tierschützer. Mit ihrer eingängigen Botschaft – saubere Luft, sauberes Wasser, ein schönes Umfeld für die Kinder – können auch die Beamten etwas anfangen. Sie haben im Unterschied zu früher erkannt, dass es sich lohnen kann, in Streitfällen, in denen es um Rodung von Wald oder den Erhalt von Grünflächen geht, die Bürger nicht gegen sich aufzubringen. Das ist insofern erstaunlich, als auch in Perm Umweltaktivisten einst radikal gegen die Machthaber kämpften und die Umweltbewegung in der Spätphase der Sowjetunion überhaupt einer der Kristallisationspunkte gesellschaftlicher Opposition gegen das System gewesen war.
Auch diejenigen, die sich um sozial Benachteiligte kümmern, finden noch eine Nische: etwa wenn es um Kinder mit Beeinträchtigungen oder Obdachlose geht. Aber alles, was mit medizinischen oder schulischen Einrichtungen, mit Unternehmen und Staat zu tun hat, müssen die entsprechenden Organisationen meiden. Andere wiederum suchen die Nähe zur Allrussischen Volksfront, einer vom Kreml ins Leben gerufenen Organisation zur Mobilisierung der Gesellschaft. Alles, was damit zu tun hat, ist jedoch mit der politischen Agenda des Staates, derzeit mit Krieg und «Patriotismus», verbunden.
Überall treibt der Krieg Keile zwischen frühere Gleichgesinnte. Juristen müssen sich fragen, ob sie auch die Rechte von Kriegsheimkehrern verteidigen wollen, die sich um ihre Kompensationen oder Behandlungen geprellt sehen. In Genossenschaften und Hausgemeinschaften zerstreiten sich die, die eigentlich etwas gemeinsam erreichen wollen. Dabei wäre es gerade jetzt besonders wichtig zu zeigen, dass es Gemeinschaften gibt, die funktionieren, sagen die, die sich unbeirrt mit der Zivilgesellschaft beschäftigen. Viele wollen etwas tun: Sie schreiben Briefe an politische Gefangene oder helfen denen, die schnell das Land verlassen müssen.
Vorbereitet sein auf Veränderungen
Manche denken schon an die übernächste Phase, an den «zweiten Tag» nach dem Ende des Regimes. Es geht ihnen nicht darum, Handlungen vorzubereiten; das wäre gefährlich. Aber Diskussionen darüber zu führen, was es braucht, damit das Land problemlos weiterfunktioniert, ist noch nicht verboten. Die Handlungsspielräume für Organisationen werden aber immer enger. Aussenstehende haben kaum noch Zugang zu Bildungseinrichtungen und können so kaum noch gemeinsam mit Schulen oder Universitäten zusammenarbeiten. So schwierig es ist – viele sind noch immer bereit, etwas zu tun und anderen Hoffnung zu geben.
Igor Awerkijew relativiert das politische System in Russland heute nicht mehr. Es handle sich um eine vulgäre, personalistische Form der Diktatur, in der selbst Oligarchen nicht mehr unabhängig seien. «Gutes gibt es nur noch durch Zufall», sagt er. Frei seien die Bürger nur, solange sie nicht gebraucht würden. Aber er ist auch davon überzeugt, dass viele in der Elite schon an den nächsten Tag denken. Seine sowjetische Erfahrung sagt ihm: Es kann schneller gehen, als man denkt. Dass das direkt in eine liberale Demokratie übergeht, hält er für unwahrscheinlich.
Allerdings müsste, wie es auch in der Perestroika der Fall gewesen war, die Bewegung oben, im Regime, beginnen. Nur dann beginnt sich auch unten, in der Gesellschaft, etwas zu regen. Derzeit machen die Russen das, was sie besonders gut können: Sie passen sich an die Verhältnisse an. Krieg und Sanktionen sind in Perm kaum gegenwärtig. In den Kleinstädten und Dörfern ist es anders: Von dort kommen die Frontsoldaten.
Der Westen muss Vorbild sein
Nicht nur Awerkijew hofft, dass es Führungspersönlichkeiten der Opposition geben wird, die das Land nicht über einen Leisten schlagen, sondern verstehen, dass jede Region eigene Bedürfnisse hat. «Die Oppositionspolitiker müssen lernen, das Volk zu lieben», sagt Awerkijew. Dass mit Nawalnys Tod alle Hoffnung zerstört ist, teilt er keineswegs.
Und der Westen? Der habe Putin erst die Anhäufung von Ressourcen ermöglicht, über die dieser jetzt verfüge, meint Awerkijew. Aber als Orientierungspunkt halten die Aktivisten in Perm den Westen immer noch für sehr wichtig – solange er seine eigenen Werte nicht verrät. Gesellschaftliche Kontakte zwischen Städten oder Universitäten in Russland und dem Westen, jenseits der staatlichen Ebene, wären jetzt eigentlich besonders wichtig, finden sie. «Die Zivilgesellschaft hat gegenüber dem Staat einen grossen Vorteil: Sie kann viel besser organisieren», sagt Awerkijew fast verschmitzt. «Das müssen wir nutzen.» Noch geht es aber vor allem um eines: das zu bewahren, was noch zu bewahren ist. Für die Zeit, wenn der Winter vorbei ist.

