Anatoliy Garanin / Imago
Schon in der Sowjetunion war Charkiw eine strategisch wichtige Stadt im Süden des Landes. Sie geriet ins Visier der deutschen Wehrmacht. Doch anders als bei Stalingrad und Leningrad erinnern sich nur wenige an ihre tragische Geschichte.
Die Kämpfe um Charkiw seit Anfang Mai 2024 haben die Aufmerksamkeit der internationalen Öffentlichkeit auf die Millionenstadt in der Ostukraine gelenkt. Die russische Armee plant zwar nicht die Eroberung der zweitgrössten Stadt der Ukraine. Es geht den Russen wohl vielmehr darum, mit ihren Angriffen den Abzug ukrainischer Reserven vom jetzigen Schwerpunkt der Kämpfe zu veranlassen, die Stadt wieder stärker unter die Wirkung ihrer Waffen zu bringen und eine Fluchtbewegung unter der Zivilbevölkerung auszulösen.
Nach den gescheiterten Handstreichen durch russische Truppen und Separatisten auf die Stadt in den Jahren 2014 und 2022 sowie der erfolgreichen ukrainischen Entlastungsoffensive im September 2022 steht die Stadt wieder im Fokus. Das ist ein guter Moment, um sich die Geschichte der zweitgrössten Stadt der Ukraine im Zweiten Weltkrieg in Erinnerung zu rufen. In der Kriegserinnerung im Westen rangiert Charkiw nämlich weit hinter Städten wie Leningrad oder Stalingrad.
Zum Zeitpunkt des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 war das damalige Charkow ein bedeutender Industriestandort und Verkehrsknotenpunkt im Süden des Sowjetstaats. Mit rund 900 000 Einwohnern war der Ort eine wichtige Universitätsstadt und ein pulsierendes Zentrum der «Roten Moderne» (Karl Schlögel). Doch lebten Stadt und Region schon damals mit einer dunklen Geschichte: Die Oblast Charkiw war in den Jahren 1932/1933 ein wichtiger Schauplatz des Holodomor gewesen, der durch Missmanagement und Menschenverachtung produzierten Hungersnot Stalins.
Die Entfernung der Stadt zur Front erlaubte es im Sommer 1941 ihren Verteidigern, sich länger, als dies in Lwiw oder Kiew möglich gewesen war, auf die Angreifer vorzubereiten. Sie verlagerten wichtige Industrieanlagen, darunter das Maschinenbauwerk Nr. 183, in dem gerade mit dem Bau des sowjetischen Panzers T-34 begonnen worden war. Zusammen mit den Maschinen wurden die wehrpflichtigen Männer, die Verwaltungselite und die Parteikader evakuiert.
Zurück blieb eine demografische Restgesellschaft sowie die Truppen der Roten Armee und des Geheimdienstes NKWD, die die Grossstadt zur Verteidigung einrichteten. Am 20. Oktober stand schliesslich die deutsche 6. Armee vor der Stadt. Nach zwei Tagen und heftigen Kämpfen war sie gefallen. Für die Wehrmacht war Charkiw ein wichtiges Winterquartier und Ausgangsort für ihren weiteren Raubzug zu den dringend benötigten Kriegsressourcen Kohle, Eisen und Öl.
Schlachtfeld Ostukraine
Doch Charkiw, das macht das Schicksal der Grossstadt besonders, sollte im weiteren Verlauf des Krieges weiterhin hart umkämpft bleiben. Die Militärgeschichtsschreibung zählt nach der Eroberung durch die Wehrmacht im Oktober 1941 noch drei weitere Schlachten. Die zweite Schlacht fand im Mai 1942 statt. Nach dem verheerenden Scheitern des Unternehmens «Barbarossa» hatten die deutschen Verbände im Raum Charkiw mit Mühe den Winter 1941/1942 überstanden.
Für das kommende Jahr plante Hitler, den Schwerpunkt auf die Ostukraine zu verlegen und von dort auf die Wolga und in den Kaukasus vorzustossen. Überrascht wurden die Deutschen dabei allerdings am 12. Mai 1942 von einem sowjetischen Zangenangriff auf Charkiw. Es gelang der Wehrmacht jedoch, mit den für die eigene Offensive bereits vorbereiteten Verbänden die Angreifer ihrerseits im Raum Isjum einzuschliessen und zu vernichten.
In dieser extrem dynamischen Begegnungsschlacht mit mechanisierten und von der Luftwaffe unterstützten Grossverbänden lernte die Wehrmacht einen Gegner kennen, der sich offensichtlich vom Schock des deutschen Überfalls erholt hatte. Einen Eindruck davon gibt der Gefechtsbericht des kommandierenden Generals des III. Panzerkorps, Eberhard von Mackensen: «Die rote Führung riskiert alles. Sie fasst im Grossen klare Entschlüsse und setzt alles zu ihrer Verwirklichung ein.» Und weiter: «Rote Panzerwaffe und Kavallerie zeichnen sich durch unerhörten Schneid und Kampfwillen bis zur Vernichtung aus.» Für die geplante Offensive der Wehrmacht waren das keine guten Vorzeichen.
Die dritte Schlacht um Charkiw fand ein Dreivierteljahr später statt. Sie war Teil des sowjetischen Generalangriffs nach der Vernichtung der 6. Armee in Stalingrad im Winter 1942/1943 – also genau der Armee, welche im Oktober 1941 Charkiw eingenommen hatte. Die gesamten in der Ostukraine stehenden deutschen Kräfte sollten jetzt durch einen Stoss über Saporischja auf den unteren Dnipro und weiter in Richtung auf die Krim eingeschlossen werden.
Die Deutschen erkannten allerdings im Februar 1943 die gegnerische Absicht, zogen sich unter schweren Kämpfen zurück, gruppierten ihre Kräfte um und gingen zum Gegenangriff über. Charkiw war während des sowjetischen Angriffs am 16. Februar 1943 wieder von der Roten Armee besetzt worden. Doch die Deutschen konnten die Stadt schon am 14. März erneut einnehmen.
Die insgesamt vierte Schlacht um Charkiw im August 1943 war Teil der Sommeroffensive der Roten Armee nach der Schlacht um Kursk. Dort hatte die Wehrmacht im Juli 1943 in einer gigantischen Abnützungsschlacht noch einmal einen begrenzten Erfolg gesucht und war gescheitert. Damit hatten die Deutschen die Initiative endgültig verloren. Für den Rest des Krieges ging es für die Wehrmacht in der Ukraine nur noch rückwärts. Am 23. August 1943 zog sie sich endgültig aus Charkiw zurück.
Militärverwaltung, Hungerpolitik und Shoah
Der Raum Charkiw mag ein Lehrbeispiel für die militärischen Fähigkeiten der Wehrmacht sein. Er ist aber auch ein Exempel für die Armee als Instrument im nationalsozialistischen Raub- und Vernichtungskrieg. Anders als die meisten sowjetischen Grossstädte blieb Charkiw wegen der Nähe zur Front ab Oktober 1941 unter direkter Militärverwaltung. Sofort nach dem Einmarsch setzten die Erfassung und die Tötung der rund 15 000 jüdischen Menschen ein. Abgesichert und unterstützt von der Wehrmacht, mordeten hier eine Einsatzgruppe, ein Polizeibataillon und auch eine Anzahl ukrainischer Hilfskräfte.
In Charkiw blieb eine verletzliche Zivilbevölkerung gefangen, die hauptsächlich aus Frauen, Kindern und Alten bestand. Deren Überleben konnte die Wehrmacht logistisch nicht sicherstellen. Sie wollte das auch nur so weit, als sie Teile dieser Bevölkerung zur Zwangsarbeit heranziehen konnte. So stand in Charkiw schon Ende 1941, also nur zehn Jahre nach dem Trauma des Holodomor, wieder ein Hungersterben als Menetekel an der Wand.
Bis Ende 1942 verhungerten in Charkiw gemäss einer Aufstellung der Stadtverwaltung mindestens 14 000 Menschen, wobei die tatsächliche Zahl deutlich höher gewesen sein dürfte. Aber schon diese Angabe war die höchste Zahl von Hungertoten in einer von der Wehrmacht besetzten Grossstadt an der Ostfront. Die Stadt, in die die Rote Armee 1943 wieder einrückte, war kein Gemeinwesen mehr. Sie war zerbombt, kahlgefressen, ausgeplündert und entvölkert. Noch knapp 200 000 Menschen vegetierten in ihr.
Kampfraum Charkiw
Wer sich mit der Geschichte von Krieg und Okkupation in Grossstädten befasst, findet in Charkiw viel Anschauungsmaterial. Bei der vergleichenden Betrachtung der Armeen und des Kampfraums damals und heute überwiegen die Unterschiede: In den Charkiwer Schlachten von 1941–1943 kämpften voll mobilisierte Wehrpflichtarmeen. Die Kämpfe zwischen 2014 und 2024 dagegen wurden von Berufsarmeen und Milizen getragen.
Die Charkiwer Operationen im Zweiten Weltkrieg waren raumgreifende Manöver von mechanisierten Grossverbänden im sprichwörtlichen «Panzerland». Innerhalb weniger Tage verschob sich hier die Frontlinie um Dutzende von Kilometern. Die Grenzen gaben der Gegner, die Reichweite der eigenen Logistik und geografische Faktoren vor. Dieselben Grenzen machen sich auch heute bemerkbar. Dazu kommt allerdings im Fall Charkiw die Staatsgrenze, welche die Operationen der Verteidiger politisch einschränkt. Den Bewegungskrieg von 1941–1943 sucht man vergebens, heute werden die Raumgewinne in Metern gemessen. Stattdessen bestimmen jetzt tief gegliederte Stellungssysteme das Bild. Über diesen fliegen kaum Flugzeuge, dafür aber Scharen von Drohnen und unsichtbar darüber Satelliten.
Charkiw wechselte im Zweiten Weltkrieg dreimal den Besitz. Eine solche Entwicklung ist heute trotz der Nähe zur Front unwahrscheinlich. Für die Eroberung einer zur Verteidigung eingerichteten Millionenstadt genügen weder die Kräfte noch die Fähigkeiten der russischen Armee. Aus diesem Grund hat sie sich auf den unterschiedslosen Fernbeschuss der Stadt verlegt.
Für die Wehrmacht war Charkiw als Verkehrsknotenpunkt und als administratives Zentrum für die Umsetzung der rassistischen Grossraumordnung in der Ostukraine und in Südrussland bedeutend. Für die russische Armee ist Charkiw heute ein Eckpfeiler der ukrainischen Verteidigung und als zweitgrösste Stadt der Ukraine ein strategisches Ziel. Sie kann dieses nicht erobern, wohl aber durch Angriffe in diesem Raum die Verteidiger ablenken und abnutzen.
Und die Zivilbevölkerung? Im Zweiten Weltkrieg litten und starben die ausgezehrten Bewohner unter einem brutalen Besetzungsregime. Heute sind sie schon durch ihre fortgesetzte Anwesenheit in der Stadt ein Teil des Widerstands. Dass sich unter diesen Menschen auch loyale russischstämmige Staatsbürger der Ukraine befinden, bildet ein im Westen oft übersehenes Kapitel in der Geschichte der Metropole.
Charkiw erinnert uns daran, dass der Krieg auch damals nicht in einer öden und weiten Landschaft irgendwo «im Osten» stattfand, sondern eben auch in politisch, wirtschaftlich und kulturell bedeutenden Zentren wie Charkiw. Damals lebte die Mehrzahl der Menschen noch auf dem Land, heute lebt sie in den Städten. Es gibt also keinen Grund, anzunehmen, dass der jetzige Krieg in der Ukraine nicht immer wieder ein Krieg um die Städte und vielleicht auch ein Krieg in den Städten selbst sein wird.
Markus Pöhlmann ist Militärhistoriker in Potsdam.

