Kiew greift in Russland überraschend an und erhöht den Einsatz vor Trumps Amtsantritt. Die allgemeine Lage in Kursk spricht dennoch für Russland und seine nordkoreanischen Verbündeten.
In der russischen Region Kursk haben Kiew wie Moskau am Wochenende neue Offensiven lanciert. Während die Russen bereits seit Monaten versuchen, den gegnerischen Brückenkopf auf eigenem Territorium zu liquidieren, jüngst mit noch mehr Energie, erstaunt vor allem der ukrainische Angriff: Er zeigt, dass die Streitkräfte bereit sind, den Einsatz noch einmal zu erhöhen.
Sie konzentrieren ihre Offensive gegenwärtig am östlichen Rand des ukrainisch kontrollierten Gebietes. Der erste Hauptstoss erfolgte am Sonntagmorgen in Richtung des Dorfes Bolschoje Soldatskoje, wo eine gepanzerte Kolonne mehrere Kilometer vorrückte. Sie wurde aber auch von russischen Drohnen angegriffen, die einige Fahrzeuge beschädigten oder zerstörten. Mehrere Quellen melden kleinere ukrainische Gebietsgewinne. Am Montag erfolgte ein zweiter Angriff.
Russian drones attacking a Ukrainian column advancing towards Russian positions. At first, a mine clearing vehicle leading the column, is targetted. After that, the column following the mine clearing vehicle can also be seen. The leading tank is struck. Damage is unclear as the… pic.twitter.com/D4y7dSGEQR
— NOELREPORTS 🇪🇺 🇺🇦 (@NOELreports) January 5, 2025
Die Russen reagierten mit einem Gegenstoss im Westen des Brückenkopfs. Ein ukrainischer Kämpfer mit dem Pseudonym «Kriegsforscher» schreibt von einem Angriff mit vierzig gepanzerten Fahrzeugen am Sonntag bei Leonidowo, dem grössten seit Monaten. Daran beteiligt seien Teile von drei russischen Eliteeinheiten gewesen, der 155. und der 810. Brigade der Marineinfanterie sowie der 106. Luftlandedivision. Laut einem Militärangehörigen, der sich auf Informationen aus der dort aktiven ukrainischen Einheit beruft, wurden zehn Fahrzeuge zerstört.
Drohnen sehen auf dem Schlachtfeld fast alles
Beide Seiten sehen dank Drohnen fast alles. Gerade in einer flachen, schneebedeckten Landschaft sind Panzerkolonnen rasch entdeckt, was ihre Durchschlagskraft stark verringert. Den Ukrainern war es am Sonntag laut russischen Angaben zwar gelungen, den Feind mit Störsendern zu blenden. Doch rasch führte Moskau Drohnen heran, die über Glasfaserkabel mit den Piloten verbunden und immun gegen Störsender sind.
Hinter der Front scheinen aber vor allem die Ukrainer über eine exzellente Aufklärung zu verfügen: Zur Vorbereitung des Vorstosses griffen sie russische Kommandozentren und Nachschublinien mit Raketenartillerie und Marschflugkörpern an, in der frontnahen Stadt Lgow, aber auch im Hinterland. An Weihnachten beschossen sie eine Kommandozentrale der 810. Brigade, später geriet der Bahnhof von Lgow unter Feuer, wobei laut Berichten mehrere Offiziere umkamen.
Dennoch glauben Experten nicht, dass die Ukraine Aussicht auf eine erfolgreiche Grossoffensive hat. Der ukrainische Reserveoffizier Andri Kramarow warnt vor hohen Erwartungen. Emil Kastehelmi von der Black Bird Group weist auch darauf hin, dass die Ukrainer zahlenmässig unterlegen sind. «Im besten Fall können sie einige Dörfer einnehmen», schreibt der Finne. An der allgemeinen Lage werde sich wenig ändern. Es gehe eher darum, die Russen abzulenken.
Diese eroberten in den vergangenen Monaten die Hälfte der 900 Quadratkilometer zurück, die Kiew noch zu Herbstanfang in Kursk kontrolliert hatte. Auf ukrainischer Seite mangelt es offenbar an Koordination, Fahrzeugen sowie Truppen. Die Kämpfe sind so heftig, dass sie Tote zurücklassen müssen.
Riesige Verluste unter Nordkoreanern
Moskau kann die Schwierigkeiten allerdings nur begrenzt ausnutzen. Trotz ständigen Sturmangriffen bleibt der Brückenkopf bestehen. Offizielle Zahlen zu Gefallenen und Schwerverletzten gibt es nicht. Doch sie dürften auf beiden Seiten in die Tausende gehen. Bei den Russen sind sie laut Beobachtern jüngst stark angestiegen: Der politische Druck des Kremls, Kursk den Ukrainern als Faustpfand für mögliche Verhandlungen zu entreissen, scheint seit der Wahl von Donald Trump stark gestiegen zu sein.
Die Russen haben deshalb nicht nur Eliteeinheiten in die Region verlegt, sondern auch 10 000 bis 12 000 nordkoreanische Soldaten angeworben. Diese kommen seit Mitte Dezember bei Sturmangriffen zum Einsatz. Sie entrichten dabei einen noch höheren Blutzoll als die Russen. Die Angehörigen dieser Spezialeinheiten gelten als streng indoktriniert und gut ausgebildet, haben aber mit dem Drohnenkrieg keine Erfahrung. Die Ukrainer erzählen dabei fast ungläubig, wie die Nordkoreaner in grossen Gruppen über offene Felder rennen und so leichte Ziele sind.
Kiew spricht von einer Taktik der «menschlichen Köder», die Russland anwende: Dabei würden die Nordkoreaner vorgeschickt, um das Feuer auf sich zu ziehen, damit die russischen Einheiten dahinter erkennen könnten, wo die feindlichen Positionen seien. Eine angeblich von einem toten Nordkoreaner stammende Zeichnung, welche die ukrainische Militärführung veröffentlichte, demonstriert den Ansatz. Auf ähnliche Weise verheizte Moskau früher seine aus Häftlingen bestehenden Einheiten.
Diary of KIA North Korean soldier in Kursk Oblast. Part 2 «Live bait”
Ukrainian SOF operators eliminated a North Korean soldier in russia’s Kursk region, discovering his diary. The entries reveal that North Korea sent elite troops to support russia, not ordinary soldiers. 1/9 pic.twitter.com/J3DsLIcv0J
— SPECIAL OPERATIONS FORCES OF UKRAINE (@SOF_UKR) December 26, 2024
Moskau tut zwar alles, um die Verluste des Verbündeten zu verschleiern. Doch russisches Spitalpersonal berichtet in abgehörten Gesprächen von ganzen Zügen voller Verwundeter in Kursk. Selenski spricht von 3800 toten und verletzten Nordkoreanern, was sich nicht überprüfen lässt. Allerdings schätzte ein amerikanischer Regierungssprecher die Verluste Ende Dezember auf 1000 in einer einzigen Woche. Angeblich nehmen sich einige Soldaten selbst das Leben, um nicht in Gefangenschaft zu geraten.
Im Donbass weichen die Ukrainer zurück
Zu unterschätzen ist die Rolle der Nordkoreaner dennoch nicht. Sie sind für die Russen ein entbehrlicher und relativ billiger Ersatz, um eigene Verluste zu vermeiden. Sie erhalten gegenwärtig eine Feuertaufe auf dem Schlachtfeld, während deren sie entweder umkommen oder rasch lernen, sich auf den Drohnenkrieg einzurichten.
Die Ukrainer hingegen müssen knappe Reserven nach Kursk entsenden, während ihre erschöpften und ausgedünnten Einheiten im Donbass seit Monaten zurückweichen. Am Montag verkündeten die Russen die Einnahme des wichtigen Knotenpunkts Kurachowe, den auch die ukrainische Plattform Deep State Map im Wesentlichen als unter gegnerischer Kontrolle ausweist.
2024 verlor Kiew mehr als 3600 Quadratkilometer an Territorium, fast alles davon in der zweiten Jahreshälfte. Die politische und militärische Führung muss sich die Frage stellen, ob der Brückenkopf in Kursk diese Einbussen aufwiegt oder eher die Kräfte verzettelt – gerade im Hinblick auf die Phase der Unsicherheit, die mit Trumps Amtsantritt beginnt.