Freitag, November 7

Die Ukrainer haben eine Erdölraffinerie und eine Rüstungsfabrik im russischen Uralgebiet getroffen – mehr als 1100 Kilometer von der Front entfernt. Der Schlag gegen die Raffinerie ist auch politisch brisant, weil die USA klar davon abgeraten haben.

Nach einem zehntägigen Unterbruch haben die ukrainischen Streitkräfte am Dienstag ihre Langstreckenangriffe auf Ziele im Innern Russlands wieder aufgenommen. Dabei stellten sie mit ihren Kamikaze-Drohnen einen neuen Distanzrekord auf: Die beiden getroffenen Anlagen liegen in der Republik Tatarstan im Uralgebiet, mehr als 1100 Kilometer von der Front entfernt. Durch Videos relativ gut dokumentiert ist der Angriff auf das Areal der Drohnenfabrik von Jelabuga, wo Russland Fluggeräte nach dem Modell der berüchtigten iranischen Shahed herstellt.

Offenbar erhielt aber nicht die Fabrikhalle selber einen Treffer, sondern eine Gruppe von kleineren, erst kürzlich errichteten Gebäuden in der Nähe. Angeblich handelt es sich nur um Unterkünfte. Zum Einsatz kam ein Propellerflugzeug, das auf den Videobildern an eine ältere Cessna erinnert. Es dürfte ferngesteuert und mit einer grossen Menge Sprengstoff gefüllt gewesen sein.

Schwäche der russischen Flugabwehr

Ob der Angriff die Rüstungsproduktion in Jelabuga in irgendeiner Weise behindern wird, ist unklar. Zumindest symbolisch ist es bedeutsam, dass ein ukrainisches Fluggerät ungehindert quer durch den europäischen Teil Russlands gelangen konnte. Dies verrät erhebliche Schwächen der russischen Flugabwehr.

Aufhorchen lässt auch der andere Angriff, der 30 Kilometer davon entfernt erfolgte. Getroffen wurde dabei die Erdölraffinerie von Nischnekamsk. Laut Branchenangaben handelt es sich um die fünftgrösste Raffinerie Russlands und die einzige, die vollständig neu nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion errichtet wurde. Das verfügbare Bildmaterial zeigt einen kleinen Brand in einer der zentralen Produktionsanlagen. Laut offiziellen Angaben konnte er nach zwanzig Minuten gelöscht werden, aber eine unabhängige Bestätigung dafür liegt nicht vor.

Bedeutsam an dem Vorfall ist wohl weniger der angerichtete Schaden als die Rekorddistanz und die Tatsache, dass die Ukraine ihre Angriffe auf russische Raffinerien wieder aufgenommen hat. Denn in den vergangenen Wochen war Kiew deswegen unter Druck der USA geraten.

Drohnenangriffe auf russische Erdölanlagen 2024

In der ersten Märzhälfte hatten die Ukrainer mit einer Serie von solchen Angriffen für Aufsehen gesorgt; zeitweise brannte fast jede Nacht irgendwo in Russland eine Erdölraffinerie. Darauf berichtete die «Financial Times» unter Berufung auf anonyme Regierungsquellen, dass Washington zu einem Ende der Angriffe gedrängt habe. Angeblich herrschte im Weissen Haus die Besorgnis, dass dadurch die weltweiten Energiepreise steigen könnten, was mit Blick auf den amerikanischen Wahlkampf ein Problem für Präsident Joe Biden wäre.

Selenski übergeht die USA

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski scheint die amerikanischen Warnungen jedoch in den Wind zu schlagen oder hat mit den USA einen Kompromiss gefunden. Er bestätigte Ende letzter Woche in einem Zeitungsinterview, dass die Angriffe auf die Raffinerien amerikanisches Missfallen ausgelöst hätten. Aber er pochte auf das Recht der Ukraine, sich auf diese Weise gegen die russische Militärmacht zu wehren. Eingesetzt würden allein einheimische Drohnen; niemand könne dies den Ukrainern verbieten.

Wirkung scheint der amerikanische Druck trotzdem gezeigt zu haben. Jedenfalls kam es nach der spektakulären Serie der ersten Märzhälfte nur noch zu einem erfolgreichen Angriff, auf eine Raffinerie in der Wolgaregion. Vergangene Woche blieben die Attacken vollständig aus. Nun hat Kiew sie wieder aufgenommen, aber möglicherweise aus Rücksicht auf die USA in kleinerem Umfang.

In den Vereinigten Staaten sind die Benzinpreise seit Anfang Jahr gestiegen, liegen aber noch immer unterhalb des Durchschnitts der vergangenen beiden Jahre. Inwieweit sich Produktionsunterbrüche in Russland indirekt auf die Benzinpreise in den USA auswirken würden, ist ohnehin unklar. Kann Moskau weniger Rohöl im eigenen Land zu Benzin und Diesel verarbeiten, dürfte es höhere Mengen Rohöl auf den Weltmarkt zu bringen versuchen.

In Russland selber tendieren die Benzinpreise nach oben. Laut der Agentur Reuters haben die Unterbrüche in den angegriffenen Raffinerien landesweit einen Kapazitätsverlust von 14 Prozent zur Folge. Das deckt sich ungefähr mit den offiziellen Produktionszahlen. Russland sah sich dadurch gezwungen, Benzin aus dem benachbarten Weissrussland zu importieren.

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