Mittwoch, Oktober 9

Bruno Retailleau repräsentiert die katholische Rechte in Frankreichs neuer Regierung. Als Innenminister will er die illegale Migration unter Strafe stellen und seine Landsleute über die Einwanderung abstimmen lassen. Vor allem ist er dazu da, Marine Le Pen bei Laune zu halten.

Man würde nicht vermuten, dass Bruno Retailleau in seiner Jugend ein Stuntman war. Mit 17 Jahren nahm der französische Innenminister als Reiter an einer Ritter-Show teil. Mehrfach brach er sich die Knochen. Doch das minderte nicht seine Leidenschaft für die nachgestellten Schlachten und Turniere – die er in Frankreich mit Millionen teilt: Das Spektakel wurde ausgebaut, und es entstand das Puy du Fou, ein riesiger History-Entertainment-Park im malerischen Département Vendée.

Familien und Schulklassen aus dem ganzen Land fiebern hier in fiktiven mittelalterlichen Heldengeschichten mit. Sie dürfen erleben, wie vor ihren Augen das heilige katholische Frankreich wiederaufersteht. Dass er an diesem Spektakel mitwirkte, sagt viel aus über Retailleau. Nach seiner Reiterkarriere schlug er zwar eine politische Laufbahn ein. Doch gleichzeitig übernahm er für viele Jahre die künstlerische Leitung des Parks.

«Weder unantastbar noch heilig»

Der Innenminister, sagen seine Kritiker, sei ein Mann von gestern. Oder sogar vorgestern. Ein Reaktionär, der überzeugt sei, dass die Franzosen zu oft in ihrer Geschichte die falsche Richtung eingeschlagen hätten. Womöglich stehe Retailleau ja in einer Traditionslinie mit den königstreuen Bauern der Vendée, die sich einst gegen die Truppen der Ersten Republik auflehnten. Über die Zeit der Französischen Revolution ist im Puy du Fou jedenfalls nichts zu erfahren.

Ende September übernahm Retailleau von seinem Vorgänger Gérald Darmanin die Amtsgeschäfte. Diese Wahl des Premierministers irritierte Teile des liberalen Präsidentenlagers, die in der Regierung immerhin die Mehrheit stellen. Sie erinnerten daran, dass Retailleau nicht nur gegen die Ehe für alle und gegen die Aufnahme des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch in die Verfassung gekämpfte hatte. Sogar das Verbot der sogenannten Konversionstherapie wollte der 63-jährige Katholik wieder kippen. Sie zielt darauf ab, Schwule und Lesben von ihrer sexuellen Orientierung zu «heilen». Das ging selbst vielen Mitgliedern seiner eigenen Partei, den konservativen Républicains, zu weit.

Retailleau sieht Frankreich in die «Entzivilisierung» (décivilisation) abgleiten, und dies auf keinem Feld so sehr wie bei der ungesteuerten Einwanderung. Gleich nach seinem Amtsantritt erklärte er der Presse, er verfolge drei Prioritäten: «Die Ordnung wiederherstellen, die Ordnung wiederherstellen, die Ordnung wiederherstellen.» Dann führte er aus, dass er die Haftzeit für abgelehnte Asylbewerber auf bis zu 210 Tage verlängern sowie den Straftatbestand der illegalen Migration wieder einführen wolle, der unter der Präsidentschaft von François Hollande abgeschafft worden war.

Gerne würde Retailleau auch feste Quoten für Einwanderer definieren, den Familiennachzug nur noch in Ausnahmefällen erlauben und Sozialleistungen für Migranten drastisch einschränken. Für all diese Punkte hatte er sich schon als Senator eingesetzt; manche fanden Eingang in einen Gesetzesentwurf. Doch im Januar erklärte der Verfassungsrat Teile des neuen Einwanderungsgesetzes für verfassungswidrig. Schön und gut, legte Retailleau in einem Interview mit «Le Figaro» nun nach, aber wenn das Recht nicht mehr schütze, müsse man es eben ändern. Der Rechtsstaat an sich, sagte der Innenminister, sei «weder unantastbar noch heilig».

Retailleaus Worte fielen nur wenige Tage, nachdem im Bois de Boulogne, einem Pariser Stadtwald, die Leiche der 19-jährigen Studentin Philippine gefunden worden war. Ihr mutmasslicher Mörder, ein wegen Vergewaltigung vorbestrafter Marokkaner, hatte sich illegal auf französischem Boden aufgehalten. Seine Rückführung scheiterte daran, dass er ungestört das Ausschaffungszentrum verlassen und untertauchen konnte.

Marokko gehört zu den Ländern, mit denen Frankreich ein Rückführungsabkommen unterhält. Doch allzu oft, wie wohl auch in diesem Fall, verschleppen die Herkunftsländer die Angelegenheit. Erschwerend kommt hinzu, dass der französische Staat die Prozesse in den Ausschaffungszentren schleifen lässt. Retailleau findet, dass man insbesondere die Rolle der privaten, staatlich subventionierten Vereine hinterfragen müsse, die dort Rechts- und Sozialberatung leisten, und jede einzelne Ausschaffung erschwerten. Diese Vereine seien «Richter und Partei zugleich», meint der Innenminister.

Laxe Behörden

Im vergangenen Jahr ordnete Frankreich fast 140 000 Ausweisungen an. Doch nur 11 000 Migranten verliessen das Land auch wirklich. Diese Diskrepanz zwischen ausreisepflichtigen und tatsächlich ausgereisten Migranten ist in keinem anderen EU-Staat höher. Und sie ist Wasser auf den Mühlen der grössten Oppositionspartei Rassemblement national, die den Verantwortlichen Laxheit vorwirft. «Wie viele Dramen brauchen wir, damit unsere politischen Führer erkennen, was heute im Land passiert?», sagte der Parteichef Jordan Bardella kurz nach der Ermordung Philippines.

Im Lager der Rechtsnationalisten ist Retailleau denn auch keine Reizfigur, sondern einer, mit dem man gut leben kann. Der «erster Bulle des Landes», wie man in Frankreich den Innenminister nennt, unterscheidet sich in Ton und Inhalt nur unwesentlich vom Rassemblement national. Das Kalkül dahinter ist klar: Der Rechtsaussen-Mann der Républicains soll die Partei von Marine Le Pen bei Laune halten, denn diese könnte der Minderheitsregierung des konservativen Premierministers Michel Barnier jederzeit ihre Unterstützung entziehen.

So brachte Retailleau kürzlich auch die Idee eines Referendums zur Migration ins Spiel. Es sei bedauerlich, sagte er im Fernsehen, dass die Gesellschaft nie ihren Willen über die Einwanderungspolitik der vergangenen Jahrzehnte habe kundtun können. Er selbst, so Retailleau, sehe die unkontrollierte Masseneinwanderung, «wie Millionen von Franzosen», nicht als Chance.

Auch Le Pen will eine solche Abstimmung. Doch die Einwanderung gehört in Frankreich nicht zu den Themen, die einem Referendum unterzogen werden können. Nötig wäre dafür eine Verfassungsänderung, gegen die es im linken und liberalen Lager freilich breiten Widerstand gibt. «Wir sind seit je ein offenes Land», pfiff der französische Präsident Emmanuel Macron den Innenminister zurück. Es komme darauf an, so Macron, die Einwanderung besser zu kontrollieren, aber sie sei nichts Schlechtes per se.

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