Seit dreissig Jahren betreibt die Schweizer Musikerin Klangforschung auf und hinter der Bühne. Ein Gespräch über Erweckungserlebnisse im Konzertsaal und das Muttersein als Künstlerin.
«Wo ist meine Geige?» Diese Frage stellte 1983 ein zweijähriges Mädchen im Konzertsaal in Lausanne. Drei Jahre später bekam die kleine Rachel Kolly ihre Geige endlich und legte sie fortan kaum mehr aus den Händen. Heute ist das Mädchen von damals eine international tätige Geigerin, seit dreissig Jahren steht Kolly inzwischen auf der Bühne. Ihre unmittelbare, ja kindliche Liebe zu ihrem Instrument aber und die Hingabe, mit der sie es erforscht, hat sie sich unverändert bewahrt.
«Der Klang der Geige ist das Beste überhaupt und unglaublich menschlich», sagt Rachel Kolly, das Instrument gebe ihr die Möglichkeit, «einfach alles zu sagen». Die 43-Jährige ist eine Frau mit grosser Gestik, leuchtend rot geschminkten Lippen, ebenso roten Haaren und kraftvoller Sprache. Kompromisse in künstlerischen Fragen sind ihre Sache nicht, das spürt man schnell; stattdessen gibt sie sich mit einer Intensität und Demut der Musik hin, die ihresgleichen sucht. Ganz gleich, um welches Stück es geht: Kollys Interpretationen sind hochemotional und vereinnahmen mit unmittelbarer Wucht und einem singend warmen Geigenton.
Als Entdeckerin unterwegs
Rachel Elise Marie-Claude Kolly d’Alba kam 1981 in Lausanne auf die Welt. Bei einem der Sonntagskonzerte des dortigen Kammerorchesters ereignete sich das Erweckungserlebnis, bei dem sie dem Klang der Geige verfiel. «Diesen Moment, in dem sich die Sologeige über den Orchesterklang legte wie eine Stimme über ein Meer, habe ich geliebt», so erinnert sich Kolly. Zu Hause lauschte sie bald Aufnahmen mit Violinmusik und ahmte das damals noch grossflächig eingesetzte Vibrato auf ihrer eigenen Geige nach.
Wenige Jahre darauf gewann sie erste Wettbewerbe, mit zwölf Jahren trat sie erstmals als Solistin auf, mit fünfzehn Jahren schloss sie das Conservatoire de Lausanne mit einem Lehrdiplom ab, danach besuchte sie die Meisterklasse von Igor Ozim an der Hochschule für Musik und Theater Bern. Einer bestimmten Norm zu entsprechen, war schon damals nicht ihr Ziel. «Als Jugendliche war ich ein bisschen wild und sicher nicht die typische Vorzeigeschülerin», erzählt sie. Etliche Male habe sie an der weiterführenden Schule gehört, dass sie «nicht in den Rahmen» passe. Sie selbst hat das eher bestärkt in ihrer leidenschaftlichen Suche nach einem eigenen Zugang zur Musik.
Seither ist Kolly als Entdeckerin unterwegs. «Ganz gleich, an welchem Stück ich gerade arbeite: Mein Ziel ist es immer, bei der Erforschung des Werks bis ganz zum Ende zu gehen, in jeden Winkel hinein und in jeden Ton.» Dabei sei ihr bewusst, dass es bei der Auseinandersetzung mit grosser Musik eigentlich nie einen Endpunkt gebe. Ideell aber lässt sie sich von diesem absoluten Anspruch tragen. Die technische Einstudierung der Werke ist jeweils nur ein kleiner Teil ihrer Forschungsarbeit. Im Vorfeld einer Einspielung verbringt Kolly manchmal Monate damit, biografische Hintergründe, Handschriften und Quellen zu eruieren, auch um allfällige Abweichungen zwischen verschiedenen Ausgaben nachzuvollziehen. «Ich möchte den Kontext verstehen und so viel in Erfahrung bringen wie nur möglich», sagt Kolly.
Bevor sie etwa für ihre CD «Passion Ysaÿe» die hochkomplexen sechs Solosonaten op. 27 von Eugène Ysaÿe einspielte, hatte sie mit der Familie Ysaÿes Kontakt aufgenommen und in Gesprächen mit dessen Enkel viel über den Schöpfer der anspruchsvollen Werke aus erster Hand erfahren. «Das war grossartig: Er hat mir davon erzählt, wie er unter dem Tisch sass, während sein Grossvater komponierte, und was für ein Typ Ysaÿe gewesen ist, wie er über Musik gedacht hat.»
Auch bei ihrer Auseinandersetzung mit der Musik von Johannes Brahms, dessen drei Violinsonaten Kolly in diesem Jahr veröffentlicht hat, betrieb sie zuerst ein akribisches Quellenstudium, las einschlägige Briefwechsel und Berichte über Aufführungen zu Brahms’ Lebzeiten. Daraus entwickelte sie ihre Sicht auf die Violinsonaten: «Viele spielen diese Stücke sehr schwer, sehr massiv und langsam», sagt die Geigerin. «Für mich ist die Musik unglaublich tief, aber das Tempo kann trotzdem flüssig sein und bei aller Schwere auch etwas Leichtes in sich tragen.»
Mutterschaft und Karriere
Die Brahms-Sonaten hat Kolly zusammen mit dem Schweizer Pianisten Christian Chamorel aufgenommen, ihrem Bühnenpartner und «besten Freund», ohne den die vergangenen drei Jahrzehnte in Kollys künstlerischer Entwicklung nicht erzählt werden könnten. Vor dreissig Jahren traten die beiden erstmals zusammen auf, anfangs konnten sie wenig miteinander anfangen, doch schon bald erwuchs eine musikalische Freundschaft. «Wenn ich heute mit Christian auf der Bühne stehe, ist das sehr speziell. Er ist wie ein Teil meiner Familie. Und wir sind extrem ehrlich zueinander», sagt Kolly. Entsprechend intuitiv wirkt ihr Zusammenspiel, ein feinsinniger Dialog ohne Worte.
Die Welt der Romantik ist Kolly, die sich im Studium ein breites Repertoire vom Barock bis zu zeitgenössischen Stücken erarbeitet hat, bis heute besonders nahe. Sie interessiert die Klangforscherin auch auf einer theoretischen Ebene. So arbeitet Kolly, die im Wohnzimmer ihrer Eltern einst die Meistergeiger imitierte, derzeit an einer Dissertation über die Verwendung des Vibratos im 19. Jahrhundert an der Berner Universität.
Dafür hat Kolly nun neben ihren zahlreichen Auftritten und Aufnahmen etwas mehr Zeit, ihre Tochter ist bereits achtzehn Jahre alt. Das frühe Muttersein und die Karriere zusammenzubringen, sei im Rückblick nicht immer einfach gewesen; doch es habe ihr dabei geholfen, «eine Linie zu finden», wie Kolly sagt. Als alleinerziehende Mutter habe sie sich noch stärker bewusst machen müssen, «was ich machen will und was nicht», und viele Entscheidungen in ihrer Karriere klarer und anders getroffen, als es womöglich der Fall gewesen wäre, hätte es da nur das Leben für die Geige gegeben.
Als Interpretin die eigene Stimme zu finden, sei ein Prozess, der viel Zeit brauche. «Das ist, wie wenn man schreibt. Ich habe meist schon sehr früh eine genaue Idee davon, was ich sagen will, oder es gibt da ein bestimmtes Gefühl, das ich ausdrücken möchte.» Bis diese Idee oder dieses Gefühl aber tatsächlich auch für die Zuhörer spürbar und verständlich würden, sei es ein langer Weg. «Es geht nie nur um den Notentext, sondern darum, all das auszudrücken, was in meinem Kopf und in meinem Herzen ist», sagt die Musikerin. Die Geige ist dafür wie eh und je ihr Mittel der Wahl.