In Lyss im Kanton Bern werden die Kirchenglocken zum Kulturgut erklärt. Dies soll verhindern, dass Anwohner gegen das Läuten rechtlich vorgehen können. Das Parlament findet: Das Geläut gehört zur Identität des Dorfes.

Nachts, wenn die Bewohner von Lyss im Kanton Bern schlafen, läuten die Kirchenglocken. Um Mitternacht sind es 16 Mal. Die fünf Glocken sind zudem das zweitschwerste Geläut im Kanton. Schwerer sind nur die des Berner Münsters. Über die Einweihung der Glocken im Jahr 1935 schreibt die Kirchgemeinde auf ihrer Website: «Nachher ertönte zum ersten Mal das schöne Gesamtgeläute bis weit ins Seeland hinaus.»

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Seither ist die Gemeinde Lyss deutlich gewachsen, sie zählt 16 000 Einwohner. Und damit steigt auch die Zahl der Leute, die wegen der lauten Glocken um ihren Schlaf gebracht werden.

Im vergangenen Jahr wurde aus der Bevölkerung Beschwerde gegen das Glockenläuten eingereicht. Anwohner fordern, dass sie zwischen 22 und 6 Uhr stumm sein sollen. Ein überparteiliches Komitee aus EVP, FDP und SVP hat daraufhin eine Motion verfasst: «Bekenntnis zu einem Lysser Kulturgut». Sie verlangt, dass die Glockenschläge in den Nachtruhebestimmungen der Gemeinde als «ortsübliche Emission» verankert werden. Dies soll verhindern, dass Anwohner sich gegen das Geläut wehren können. Vergangene Woche hat das Lysser Gemeindeparlament die Motion angenommen, mit nur einer Gegenstimme.

Der Streit um lärmige Kirchenglocken ist längst ein Klassiker im Schweizer Dorfleben. Oft geht es um einen Konflikt zwischen Alteingesessenen und Zugezogenen. Für die einen gehört das Geläut zur Identität ihres Dorfes, für die anderen ist es ein nervtötender Lärm. Kompromisse sind, zumindest in Lyss, nicht in Sicht.

Zweck der Kirchenglocken

Die Gegenstimme zur Motion kam von einem SP-Politiker. Der «Berner Zeitung» sagte er, es sei ihm um den «gesunden Menschenverstand» gegangen. Für Kirchenglocken brauche es keine eigene Regelung. Zudem verstehe er die Leute, die sich vom Lärm gestört fühlten, er habe früher auch direkt neben der Kirche gewohnt. Sie läute um Mitternacht 16 Mal. Und sowieso: Jeder habe heute eine Uhr oder ein Smartphone, wer brauche schon eine Kirchenglocke, um die Zeit zu kennen.

Doch die Befürworter sehen in den Glocken einen anderen Zweck: Sie würden Identität stiften. Ein SVP-Politiker sagte in der Parlamentsdebatte, man müsse zu einer 90-jährigen Tradition sorge tragen, zumal sie «dermassen identitätsstiftend» sei und das Lysser Ortsbild präge.

Auch der Gemeinderat, die Lysser Exekutive, stimmte dem zu. In einer Beurteilung schreibt er, es liege «in der Natur dieses mächtigen Geläutes», dass beim Einsatz Lärm verursacht werde. «Es war und ist die Absicht, dass das Geläute der Kirche zur Tradition und Identitätsstiftung dienen soll.» Warum dies jedoch auch nachts wichtig ist, bleibt unklar.

Die Autoren der Motion sind jedenfalls überzeugt, dass sie im Sinne der Lysser Bevölkerung handeln, dass eine «schweigende Mehrheit» das nächtliche Glockenläuten erhalten wolle. Initiantin der Motion war Christine Schnegg von der EVP, sie ist auch Sigristin in der Kirchgemeinde. Schnegg sagte zur Beschwerde gegen die Glocken, es gebe auch andere Möglichkeiten, etwas gegen den Lärm zu tun. Etwa die Fenster zu schliessen, das Schlafzimmer umzuplatzieren oder aus der direkten Umgebung der Kirche wegzuziehen.

Bauer will dasselbe für die Kuhglocken

In Lyss wurde schon einmal über Glocken gestritten, und dies mehrere Jahre lang. 2020 beklagten sich Anwohner des Bauernhofs von Ueli Spring über das nächtliche Bimmeln der Kuhglocken. Ihr Schlafzimmerfenster war wenige Meter von der Weide entfernt, auf der die Kühe auch nachts grasten.

Weil die Gemeinde auf die Beschwerde nicht einging, wehrten sich die Nachbarn beim Kanton. Dieser befand: Anwohner müssten zwar verhältnismässigen Lärm eines Bauernhofs dulden, nicht aber mitten in der Nacht, weil dann der «Kuhglockenlärm zu Aufwachreaktionen» führe. Lärmmessungen der Kapo Bern ergaben, dass «die nächtlich auftretenden Lärmimmissionen von der Weideglocke als erheblich störend einzustufen» seien. Die Gemeinde sprach an den Bauern aber nur eine Empfehlung aus.

Beschwerden wegen Kuhglocken beschäftigen in der Schweiz immer wieder die Gerichte. In der Berner Gemeinde Aarwangen wollten deshalb die Bewohner ebenfalls per Reglement sicherstellen, dass ihre geliebte Tradition der Kirchen- und Kuhglocken bewahrt wird. Sie lancierten die sogenannte «Glockeninitiative». Die Zeitung «20 Minuten» berichtete live von der Abstimmung an der Gemeindeversammlung, das Anliegen wurde deutlich angenommen.

Auch in Lyss gelten die Kirchenglocken nun fürs Erste als gesichert. Den Entscheid dazu versuchte der Bauer Ueli Spring, der für die Mitte im Lysser Parlament sitzt, auch gleich für seine eigenen Zwecke zu nutzen: Er schlug vor, Kuhglocken ebenfalls als «ortsübliche Emission» anzuerkennen und von der Regelung zur Nachtruhe auszuschliessen.

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