Mittwoch, Januar 22

Überbehütet sind die Kinder heutzutage, liest man allenthalben. Und paradoxerweise führt das dazu, dass sich Kinder beim Spielen nicht weniger, sondern sogar mehr verletzen als früher. Was unserer Kolumnistin zu mehr Gelassenheit verhalf.

«Der Boden ist Lava» ist ein beliebtes Kinderspiel. Die Kleinen hangeln sich dabei von einem Hindernis zum nächsten. Erlaubt ist, was Spass macht – und nicht zu gefährlich ist. Bei Letzterem könnten die Meinungen der Erwachsenen nicht stärker auseinandergehen.

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«Hauptsache, gesund»

In dieser Kolumne werfen Autorinnen und Autoren einen persönlichen Blick auf Themen aus Medizin und Gesundheit.

Für die einen gehört die Schramme zum Kindsein dazu, andere wollen möglichst jede Beule der Kleinsten verhindern. «Am besten, wir schauen heute einfach nur Videos an», war einst die resignierte Bemerkung meines Sohnes, als er von einer Erwachsenen für seine Klettereien auf einem Felsen kritisiert wurde.

Die Frau sah Gefahren, wo ich als Mutter kaum noch den Kopf gewendet hätte. Das war nicht immer so. Erst ein Blick in die Forschungsliteratur hat mich ermutigt, etwas mehr Risiken – und Schrammen – zuzulassen.

Kinder scannen die Umgebung nach möglichen Gefahren

Menschenkinder sind nicht die Einzigen, die ihre Umgebung durch Klettern und Springen erkunden. Das Verhalten ist in der Tierwelt weit verbreitet. Affen- und sogar Vogelkinder fallen durch waghalsige Sprung- und Flugmanöver auf. Das kann Zufall sein – oder einen guten Grund haben.

Aus entwicklungspsychologischer Sicht überwiegen die Vorteile der risikoreichen Turnerei bei weitem deren Nachteile. Erstens lernt das Kind nur so, was gefährlich ist und was nicht. Und zweitens sind schwere Verletzungen sogar seltener, wenn Kinder häufig im Freien herumtollen dürfen. Weil sich nur die geschickten Kids gerne bewegen? Vermutlich nicht.

Kinder lernen Gefahren einzuschätzen – wenn man sie lässt

Denn kaum haben Kinder laufen gelernt, sind sie darauf geeicht, Gefahren erkennen zu lernen. Forscher haben die Kleinsten mit Go-Pro-Kameras ausgestattet und ihre Kopfbewegungen genauestens analysiert.

Das Ergebnis: Im zarten Alter von 17 Monaten scannen Kinder ihre Umgebung nach möglichen Gefahren und nähern sich diesen schrittweise an. Aus jedem noch so kleinen Fehltritt lernen sie. Schon mit 5 Jahren schätzen sie die Risiken einer Kletterei über Felsblöcke weit besser ein, als die Eltern gemeinhin annehmen.

Zugegeben, in der Kleinkindphase sind die Klettereien und Sprünge über Stock und Stein nervenaufreibend. Welcher Vater, welche Mutter möchte da nicht im Notfall noch eingreifen und steht entsprechend angespannt daneben.

Eine weitere wissenschaftliche Erkenntnis hat mir persönlich über diese Durststrecke hinweggeholfen: Lässt man Kinder die Gefahren selbst einschätzen, so wird ihr Urteil mit der Zeit recht verlässlich.

Virtuelle Welt zeigt das Lernen im realen Leben

Das sogenannte «risikoreiche Spiel» wird gerade zu einem neuen Forschungsgebiet. Denn Kinder bewegen sich heute weniger, und das wird zunehmend zum Problem. Die neuen Forschungsprojekte muten derweil etwas seltsam, gar paradox an.

Forscher aus Kanada setzten Siebenjährigen eine Virtual-Reality-Brille auf. So konnten die Kids auf einem virtuellen Spielplatz klettern oder von Stein zu Stein springend einen Bach überqueren.

Tatsächlich lernen die Kinder auch so, Gefahren besser einzuschätzen. Wer seine Kleinen am liebsten ruhig auf dem Sofa platziert, dürfte von diesem Resultat begeistert sein. Allerdings hat diese Art von Zeitvertreib gewaltige Nachteile: Weder die Muskeln der Kinder werden stärker, noch werden ihre Bewegungen geschickter.

Ich persönlich halte lieber Pflaster und Eis bereit und erlaube das Klettern in der realen Welt. Vielleicht hilft die eine Schramme dabei, grössere Unfälle im Jugendalter zu vermeiden? Statistisch belegen lässt sich diese Hoffnung zwar noch nicht. Plausibel scheint sie mir allemal.

Bereits erschienene Texte unserer Kolumne «Hauptsache, gesund» finden Sie hier.

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