Dienstag, Oktober 1

Die Wandmalereien im «Schauplatz Brunngasse» geben Einblick in die jüdische Lebenswelt im Mittelalter.

In den verwinkelten Gassen der Zürcher Altstadt wimmelt es von historischen Schätzen. Manche, wie etwa die Kirchen oder die Zunfthäuser, stechen direkt ins Auge. Andere sind leicht zu übersehen.

Die Brunngasse Nummer 8 sieht von aussen aus wie ein typisches Haus im Niederdorf: Es ist Teil eines mittelalterlichen Gebäudeblocks zwischen Predigerplatz und Hirschenplatz. Im Erdgeschoss befindet sich eine Schuhmacherei, links daneben ein spanisches Restaurant, rechts ein Einrichtungsgeschäft.

Doch hinter der leuchtend roten Fassade verbirgt sich eine archäologische Sensation: Wandmalereien, die einen einzigartigen Einblick in die Lebenswelt der jüdischen Gemeinschaft im mittelalterlichen Zürich geben. Denn der im frühen 14. Jahrhundert entstandene Gebäudeteil gehörte der Witwe Minne und ihren Söhnen Moses und Mordechai ben Menachem.

«Kein Museum im klassischen Sinn»

Der Umfang der erhaltenen Malereien ist auch heute, fast drei Jahrzehnte nach ihrer Entdeckung, nicht vollends geklärt. Das soll sich bald ändern: Denn in den Räumen, die heute den «Schauplatz Brunngasse», Zürichs jüdisches Museum, beherbergen, stehen Umbauarbeiten an. Dabei sollen weitere Wandbilder freigelegt werden.

Die Bezeichnung als «Schauplatz» sei bewusst gewählt, sagt Ron Epstein. Er präsidiert den Betreiberverein des Museums. «Wir sind kein Museum im klassischen Sinn mit Glaskästen und Exponaten. Es sind die Räume, die wir zeigen möchten.»

Seit 2020 ist die einstige Wohnung für die Bevölkerung zugänglich. Entdeckt wurde der aufwendig gestaltete Wandschmuck zufällig. Als das Gebäude im Jahr 1996 renoviert wurde, kamen im Treppenhaus und in der Wohnung Malereien zum Vorschein. Deren Untersuchung ergab: Sie entstanden wohl gleichzeitig wie der Gebäudeteil um 1330 und schmückten die Wände eines etwa 76 Quadratmeter grossen Saals.

Dargestellt sind für diese Zeit typische Motive, die wohl bei so mancher Familie aus der Oberschicht die Wände von repräsentativen Räumen zierten: Wappen bekannter höfischer Geschlechter und Minneallegorien, eine bäuerliche Tanzszene und eine Falkenjagd, wie sie auch im Codex Manesse vorkommen, einer berühmten Liederhandschrift, die um 1300 in Zürich entstand.

Unterhalb der Wappen sind die Namen der dazugehörigen Geschlechter in hebräischer Schrift festgehalten. Notizen für die Maler, erklärt Epstein. «Archäologische Untersuchungen haben gezeigt, dass die Schriftzüge angebracht wurden, bevor die Wappen ausgemalt wurden.» Damit sei die ursprüngliche Theorie, Juden hätten das Haus mit den Malereien übernommen und die Wappen im Nachhinein beschriftet, widerlegt worden.

«Es gibt nur wenige Wohngebäude aus dieser Zeit, die man klar jüdischen Eigentümern zuordnen kann. Geschweige denn, dass noch Spuren davon zu sehen sind», erklärt Epstein. Auch über das Zusammenleben von Christen und Juden wisse man – abgesehen von Verträgen und Gerichtsakten – kaum etwas.

An der Brunngasse bietet sich also die einmalige Gelegenheit, zu erfahren, wie eine wohlhabende jüdische Familie einen repräsentativen Raum gestaltete. «Die Wahl der Motive zeigt, dass die jüdische Minderheit die Kunst und Kultur ihres Umfelds übernommen hat.»

Keine zwanzig Jahre nach der mutmasslichen Entstehung der Malereien wurde ein grosser Teil der 100 bis 150 Personen umfassenden jüdischen Gemeinde Zürichs vertrieben oder ermordet. Die Pest wütete in Europa, und vielerorts gab man den Juden die Schuld an der Seuche.

Frau Minne überlebte die Verfolgungen und blieb in Zürich. Ihr Sohn Moses ben Menachem, der Rabbiner in der damaligen kleinen Gemeinde, wurde ermordet. Das Schicksal von Frau Minnes zweitem Sohn, Mordechai ben Menachem, ist unklar.

Übermalt, verputzt und vergessen

Über die Jahrhunderte wurde der einst grosse Saal im ersten Stock mit Wänden unterteilt, die bunten Malereien übermalt, verputzt und gerieten in Vergessenheit.

Bis sie vor fast dreissig Jahren wieder zum Vorschein kamen.

Vorerst blieb aber nur der Reigentanz im Treppenhaus zugänglich. Eine Malerei, die Epstein besonders am Herzen liegt, wurde sogar wieder überdeckt. Noch heute ist sie hinter Badezimmerplatten verborgen. «Wir nennen das Bild deshalb Esau in der Dusche», sagt Epstein schmunzelnd.

Eine auf die Plättli geklebte Kopie des Wandbildes zeigt, was bald im Original zu sehen sein soll: einen Bogenschützen mit rötlichem Haar, der auf einen Bock zielt.

«Die Haltung des Schützen erinnert an eine Darstellung in der Chronik des Rudolf von Ems», sagt Epstein. In der dort abgebildeten Szene schiesst Esau einen Bock und bringt ihn seinem Vater. Dieser weist ihn jedoch zurück.

Falls es tatsächlich eine Abbildung von Esau ist, sei das aus verschiedenen Gründen hochinteressant, sagt Epstein. «Im Gegensatz zu den übrigen Motiven gehört Esau nicht zum typischen Minnepersonal, sondern stammt aus der Erzählung von Isaak und seinen beiden Söhnen Jakob und Esau aus dem Ersten Testament.»

Die Figur des Esau symbolisiere im jüdischen Glauben fremde Lebensformen, also auch das Christentum, sagt Epstein. Bei den Christen spielt Esau die umgekehrte Rolle. Eine versteckte Anspielung auf die Unterschiede und die Gemeinsamkeiten der beiden Religionen, quasi ein Symbol für deren Koexistenz? Oder wie der Rest der Malereien ein Hinweis darauf, dass Frau Minne und ihre Söhne sich bei der Wahl der Motive von den hiesigen Trends inspirieren liessen? Eine abschliessende Antwort werde es wohl nie geben, sagt Epstein.

Das Museum hat unlängst ein Baugesuch eingereicht. Nebst Esaus Befreiung aus dem Bad plant der Verein, den einstigen Saal so weit wie möglich wieder sichtbar zu machen. Dazu werden die Küche, das Bad und die vermutlich aus dem 15. oder 16. Jahrhundert stammenden Zwischenwände entfernt.

Im kleinen Zimmer direkt über der Eingangstür ist heute das Büro des Vereins eingerichtet. An einer Wand seien Farbpigmente gefunden worden, sagt Epstein. Noch eine Malerei also, vielleicht die Fortsetzung der Bauerntanzszene im Treppenhaus? Möglich wäre es, sagt Epstein.

Politiker fordern dauerhafte Absicherung

Noch nicht abschliessend geklärt ist allerdings die Finanzierung der Arbeiten. Epstein und der Verein rechnen mit Kosten von etwa 150 000 Franken. Die Stadt Zürich, der das Gebäude seit den 1950er Jahren gehört, unterstützt den Trägerverein des «Schauplatzes» seit Beginn. Zuerst im Rahmen eines Pilotprojekts. Dieses ist inzwischen abgeschlossen.

Im Kulturleitbild der Stadt für die Jahre 2024–2027 sind für den «Schauplatz» wiederkehrende Beiträge von 150 000 Franken pro Jahr festgesetzt. Zusätzlich fordert eine Motion im Stadtparlament Massnahmen, um «die dauerhafte Existenz des Museums ‹Schauplatz Brunngasse› zu sichern und dessen Ausbau zu fördern».

Der Stadtrat werde die Motion nach den Sommerferien beantworten, sagt der Mediensprecher Lukas Wigger. Dann wird sich zeigen, ob Esau wie geplant bis Ende Jahr von Plättli und Mörtel befreit werden kann.

Exit mobile version