Mittwoch, Oktober 23

Eine Karte mit einer Adresse, wildfremde Menschen im Wohnzimmer – und ein unerwarteter Gast, der zu Scherzen aufgelegt ist: Die «Salons de Modeste» sind in Freiburg Kult.

Der Abend ist fortgeschritten, Geräusch- und Alkoholpegel bewegen sich auf vergleichbarem Niveau. Da klingelt es. Wer kommt denn jetzt noch, über zwei Stunden nach Beginn der Veranstaltung? Als die Gastgeberin die Wohnungstüre öffnet, traut sie ihren Augen nicht – und im Raum wird es merklich stiller. «Ist er es wirklich?», fragt die Sitznachbarin.

Ja, er ist es. Alain Berset tritt ins Wohnzimmer, irgendwo in einem unscheinbaren Wohnblock am Stadtrand von Freiburg. Er schüttelt Hände, lässt sich ein Bier reichen, stellt sich mit Vornamen vor. «Ich mag diesen Anlass sehr. So etwas funktioniert nur in Freiburg», sagt der Alt-Bundesrat beim ersten Schluck.

In der Tat handelt es sich um eine ungewöhnliche Veranstaltung, die vergangenen Freitag zum 27. Mal stattgefunden hat und längst Kultstatus geniesst: Die «Salons de Modeste», benannt nach dem jeweils am 24. Februar gefeierten heiligen Modestus. Aber heilig, nein, das ist dieses Fest hier nicht. Bescheiden («modeste» auf Französisch) schon eher. Schliesslich will man sich ja bewusst – und auf ironische Weise – von den aristokratischen Pariser Salons von einst abgrenzen.

Manchmal Luxus, manchmal WG

Das Konzept ist simpel: Wer mitmachen will, begibt sich zwischen 18 Uhr und 20 Uhr 30 zur zentralen Place Python und zieht aus einem umfunktionierten Kartenständer eine der mehreren hundert orangen Klebeetiketten. Darauf stehen ein Name und eine Adresse – manchmal ist es diejenige einer Luxuswohnung in der Altstadt, manchmal diejenige einer WG im Aussenquartier.

Dahin begibt man sich also und trifft auf eine Gruppe von gut zwanzig Personen jeglichen Alters und unterschiedlicher Herkunft. Zumeist sind wir ja zurückhaltende Geschöpfe, aber wenn alle ins gleich kalte Wasser geworfen werden – Paare sind angehalten, verschiedene Karten zu ziehen –, sitzt die Zunge lockerer.

Bald könnte man die Antwort auf die Frage «Und, wie oft hast du schon an den Salons teilgenommen?» ab Tonband abspielen, derart häufig wird sie einem gestellt. Nicht wenige erinnern sich, während eine Köstlichkeit nach der anderen aufgetischt wird, an die Anfangszeiten Mitte der 1990er Jahre.

Werbetour im Osten

So auch Berset, aufgewachsen im nahen Belfaux. Die ersten Jahre sei er stets dabei gewesen, als Bundesrat habe ihm dann zumeist die Zeit gefehlt. Dieses Mal sei er über einen Freund eher zufällig dazugestossen, erzählt er im Wissen, dass Journalisten vor Ort sind. Eben erst sei er aus verschiedenen osteuropäischen Staaten nach Hause gekommen – Berset will bekanntlich Generalsekretär des Europarats werden. Da bewirkt ein Händedruck in Polen oder in der Ukraine mutmasslich mehr als im vierten Stock eines Freiburger Wohnblocks.

Es ist ein soziologisch interessantes Experiment, wenn in einem halbprivaten Rahmen plötzlich unerwartet eine der bekanntesten, aber auch streitbarsten Persönlichkeiten des Landes im Raum steht. Unter der bunt zusammengewürfelten Teilnehmerschaft finden sich nicht nur ideologische Freunde von Berset, doch die Leute treten respektvoll auf. Spricht er, schweigen die anderen. Politische Konfrontationen sind im betont ungezwungenen Rahmen nicht zu vernehmen – dafür umso häufiger die Bemerkung, dass so ein Auftritt nur schon in unseren Nachbarländern undenkbar wäre.

Eine urbane «Stubete»

Menschen zusammenbringen, die eigentlich am gleichen Ort leben und sich doch nie richtig begegnen – das ist der Grundgedanke der «Salons de Modeste». Eine Art «Stubete», einfach urban und zentral organisiert. Dass der Funke ausgerechnet in Freiburg gezündet hat, ist wohl mehr als blosser Zufall. Mit knapp 40 000 Einwohnern, darunter zahlreiche Studenten von ausserhalb, hat die Stadt die kritische Masse, damit nicht gleich alle schon zusammen zur Schule gegangen sind, und doch nicht die vollständige Anonymität einer Metropole.

Zudem gehört in Freiburg das Miteinander zwischen Personen unterschiedlicher sprachlicher, kultureller und religiöser Herkunft – trotz weiterhin bestehenden Barrieren – mehr zum Alltag als anderswo. Auch am Freitag wechseln mehrere Gäste spontan zum Dialekt, als sie anhand des Akzentes der anderen Person bemerken, dass diese wohl (auch) Deutschschweizer Wurzeln hat.

Berset im Küchenschrank

Um 22 Uhr 30 erhält die Gastgeberin eine SMS von den Organisatoren der «Salons de Modeste». Darin steht, an welchem Ort die anschliessende Party stattfindet – und nun sollte man langsam los.

Doch Alain Berset, eben erst angekommen, will noch nicht weiter. Er öffnet kurzerhand den Putzschrank in der WG-Küche und mimt zur allgemeinen Belustigung, dass er sich darin verstecken will. Schnell bricht er den Scherz wieder ab. Ein allfällig öffentlich zirkulierendes Foto, das ihn im Küchenschrank einer fremden Wohnung zeigt, das wäre für den stets auf sein Image bedachten Freiburger wohl doch zu unvorteilhaft.

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