Unsere Kolumnistin gehört zur gar nicht so kleinen Minderheit von Menschen, deren Gehirn verschiedene Sinne miteinander koppelt. Sie leidet nicht darunter, im Gegenteil.
Ohne mein Handy, das wurde mir einst in einer Notsituation jäh bewusst, konnte ich niemanden erreichen. Auch das Smartphone einer Kollegin half nicht weiter, weil ich selbst von engen Freunden und Verwandten die Telefonnummern nicht auswendig kannte. Warum auch? Normalerweise tippt man einfach auf den entsprechenden Kontakt, den Rest erledigt das Telefon. Seit jenem Tag vor vielen Jahren versuche ich, mir die wichtigsten Telefonnummern, aber auch häufig genutzte Zahlenreihen wie jene meiner Kreditkarte einzuprägen.
Als ausgesprochen hilfreich erweist sich dabei, dass Zahlen in meiner mentalen Vorstellungswelt räumlich angeordnet sind. Die Eins befindet sich darin ganz unten links vorne und jede darauffolgende Zahl ein Stückchen darüber. Die Zahlenreihen verlaufen nicht geradlinig nach oben, sondern zickzackförmig erst von links nach rechts, biegen dann nach hinten ab, drehen anschliessend wieder nach rechts, dann wieder nach hinten und so weiter. Wendepunkte sind jeweils die Zehnerschritte.
Will ich mir eine Zahlenfolge einprägen, konzentriere ich mich auf die räumliche Position der einzelnen Zahlen und deren Distanz zueinander. Das klappt in der Regel ziemlich gut, zumal ich jede Ziffer auch noch in einer eigenen Farbe sehe.
Dass es keineswegs üblich ist, Zahlen räumlich und farblich wahrzunehmen, habe ich irgendwann rein zufällig erfahren. Synästhesie nennt sich diese Koppelung zweier Sinneswahrnehmungen im Fachjargon. Sie kann unterschiedliche Formen annehmen.
Einigen Synästhetikern erscheint jeder Buchstabe in einer anderen Farbe, andere schmecken Wörter. Relativ verbreitet ist die sogenannte Chromästhesie, bei der Töne eine definierte Farbwahrnehmung auslösen – solche Klangfarben nahmen auch die Komponisten Alexander Skrjabin und Olivier Messiaen wahr, deren Werke davon geprägt wurden.
Synästhesie ist gar nicht so selten: Gemäss Schätzungen ist sie bei rund vier Prozent der Bevölkerung zu finden. Genaue Angaben sind deshalb kaum möglich, weil viele Betroffene – wie lange Zeit auch ich – ihre bunte Innenwelt für ganz normal halten.
Das Hirn von Synästhetikern ist anders
Die Verbindung verschiedener Sinneswahrnehmungen beruht offenbar auf untypischen neuronalen Verknüpfungen im Gehirn. Dafür sprechen auch die Ergebnisse einer unlängst publizierten britischen Studie. Ihr liegen Daten des «Human Connectome Project» zugrunde, das von 2010 bis 2021 Muster der neuronalen Verbindungen im menschlichen Gehirn untersuchte.
So weicht die neuronale Verkabelung im Gehirn von Synästhetikern deutlich von jener bei der Normbevölkerung ab – und das umso stärker, je mehr unterschiedliche Synästhesien bei einem Menschen vorkommen. Wie die Autoren der Studie dankenswerterweise klarstellen, ist diese Form von Wahrnehmung nicht pathologisch, sondern eine – freilich ziemlich kuriose – Variante der neurologischen Norm. Sie scheint zudem starke genetische Wurzeln zu besitzen.
Das bestätigt sich in meiner Familie: Meine Mutter nimmt Zahlen und Buchstaben in der gleichen räumlichen Anordnung und in identischen Farben wahr wie ich.
Bereits erschienene Texte unserer Kolumne «Hauptsache, gesund» finden Sie hier.