Montag, November 25

Mitten in Moskau erzählte ein staatliches Museum die Geschichte der sowjetischen Straflager und ihrer Opfer. Nun ist es geschlossen worden. Die Auseinandersetzung mit der düsteren Vergangenheit steht nicht mehr hoch im Kurs.

Dieser kleine Park mitten in Moskau ist ein wunderschöner und ein beklemmender Ort zugleich. Die Lärchen, Birken und Sibirischen Zedern, die Ebereschen, wilden Birnbäume und Ahorne haben Nachkommen von Häftlingen des sowjetischen Lagersystems, des Gulag, gepflanzt. Sie stammen von der Kolyma im russischen Fernen Osten, aus Nordrussland, Sibirien und dem Kaukasus – von dort, wo die Zwangsarbeitslager und Verbanntendörfer standen. In diesen düsteren, regnerischen Novembertagen leuchten nur die herbstlich gelben Nadeln der Lärchen. Es ist sehr still hier. Die wenigen Leute hasten an den Bäumchen und auch am hölzernen Wachturm, einem Original aus einem Straflager an der Kolyma, achtlos vorbei.

Nur der Garten der Erinnerung, wie dieses Kleinod heisst, ist der Öffentlichkeit vom Staatlichen Museum zur Geschichte des Gulag in Moskau geblieben. Das vierstöckige Backsteingebäude aus dem 19. Jahrhundert mit der dunkel verwitterten Kupferfassade zum Park hin ist zwar unversehrt. In manchen Fenstern brennt Licht. Aber seit dem 14. November ist es für Besucher bis auf weiteres geschlossen – aus Brandschutzgründen, wie auf einer Tafel am Eingang steht. Selbst die Inhalte der Website sind, abgesehen vom Bücher-Shop, nicht mehr zugänglich. Die Museumsdirektion schweigt.

Heikle Gedenkveranstaltung

Kaum jemand glaubt ernsthaft an diese Begründung. Zu offensichtlich ist, dass dieses Museum in Zeiten immer schärferer Repression und immer offensichtlicherer Reinwaschung der eigenen Gewaltgeschichte in Russland für manche eine Provokation darstellt. Umso bemerkenswerter ist es, dass es so lange unbehelligt blieb, aber nun trotzdem schliessen musste.

Der Garten der Erinnerung dürfte damit direkt etwas zu tun haben. Die meisten Beobachter sind sich darin einig, dass eine Veranstaltung am 30. Oktober, am Vorabend des Gedenktags für die Opfer politischer Repression, in ebendiesem Garten der Tropfen war, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Namen von Erschossenen des Grossen Terrors der dreissiger Jahre wurden vorgelesen, und ein Priester hielt eine Andacht.

Die Veranstaltung erinnerte an das Verlesen von Namen ermordeter Opfer, wie es seit 2007 von der mittlerweile in Russland liquidierten Organisation Memorial jeweils am 30. Oktober am Gedenkstein auf dem Lubjanka-Platz in Moskau praktiziert worden war. Mit der Pandemie brach die Tradition ab und ist seither, noch immer mit Verweis auf den Gesundheitsschutz, nie mehr bewilligt worden. Unentwegte Memorial-Aktivisten versammelten sich zwar in kleinem Rahmen in ganz Russland, aber zur einstigen Veranstaltung war das kein Vergleich.

Bezüge zur Gegenwart sind verpönt

Dass das Gulag-Museum es wagte, eine ähnliche Gedenkstunde durchzuführen, dürfte diejenigen erst recht erzürnt haben, denen das Museum schon lange ein Dorn im Auge gewesen war. Die dunklen Seiten der sowjetischen Vergangenheit und im Besonderen des Diktators Josef Stalin und seiner Geheimdienst-Schergen so demonstrativ herauszustreichen und womöglich Bezüge zur Gegenwart herzustellen, ist heute verpönt.

Nicht zuletzt deshalb wurde vor drei Jahren, als Vorspiel zum Grossangriff auf die Ukraine, Memorial zerschlagen. Die Organisation hatte nicht nur an vergangenes Leid erinnert, sondern auch die Verbindungen der Gewalt von damals zur Gegenwart aufgezeigt und den neuen politischen Gefangenen eine Stimme gegeben.

Mittlerweile werden in Russland ganz offiziell Stalin-Denkmäler eingeweiht. In Schulbüchern wird wieder der wesentliche Beitrag Stalins zur Industrialisierung und zum Sieg über das nationalsozialistische Deutschland im Zweiten Weltkrieg hervorgehoben. Der Terror mit allen seinen Begleiterscheinungen dagegen wird verharmlost.

Viele Leerstellen im Museum

Auch das Gulag-Museum wusste um den schmalen Grat. Deshalb konnte es sich so lange halten. Es war 2001 von der Moskauer Stadtregierung bewilligt und von einem einstigen Gulag-Häftling eingerichtet worden. 2014 bezog es das extra dafür umgebaute, grosszügige Gebäude, das von Bürgermeister Sergei Sobjanin persönlich eröffnet wurde.

Die sehr eindrückliche Ausstellung beschönigte nichts. Aber sie hielt den politischen Kontext relativ knapp und liess die Frage nach den Verantwortlichen – von den Denunzianten über die Geheimdienstmitarbeiter, Ermittler und Richter bis zu Stalin und seinen Geheimdienstchefs – weitgehend aussen vor. Die Kuratoren erzählten die Schrecken von Terror und Lagerwelt anhand von Einzelschicksalen, zeigten Gegenstände aus dem Lagerleben, liessen Tonbandaufnahmen laufen, auf denen ehemalige Häftlinge oder deren Angehörige an das vergangene Leid erinnerten. Sie thematisierten ebenso die kollektive Bestrafung ganzer Völker aus der Sowjetunion.

Der Gang durch die Abgründe der eigenen Geschichte stiess auch bei vielen Jungen auf Interesse. Kaum eine Familie in Russland ist nicht in irgendeiner Weise mit den Repressionen verbunden. Oft aber hielten es die Betroffenen für klüger, den Nachkommen nichts oder nur sehr wenig darüber zu erzählen. Das Museum wollte den Besuchern einen Anstoss dazu geben, mehr über die eigene Familie in Erfahrung zu bringen, und bot dafür Unterstützung an. Vorträge und Filmabende sollten zur Vertiefung beitragen. Es gab wissenschaftliche Exkursionen zu einstigen Straflagern. Neue Erkenntnisse wurden dokumentiert und Schriften in eigenen Buchreihen herausgegeben.

Rehabilitierungen werden rückgängig gemacht

Aus politischen Diskussionen hielt sich das Museum heraus. In exilrussischen Medien wurde ihm das nun implizit zum Vorwurf gemacht: Indem die Museumsverantwortlichen stets geschwiegen hätten und der Direktor Roman Romanow weiterhin in staatlichen Gremien mitgewirkt habe, hätten sie Entwicklungen begünstigt, von denen sie nun selbst eingeholt worden seien.

Seit einigen Jahren steht Romanow auch der Stiftung Erinnerung (Fond Pamjati) vor. Diese soll die nationale Konzeption zur Verewigung des Gedenkens an die Opfer der Repression umsetzen und unterstützt Projekte in ganz Russland. Diese Konzeption wurde von Präsident Putin mitgetragen und diente dem Gulag-Museum als Rechtfertigung seiner Existenz. Im September machte die «Nowaja Gaseta» darauf aufmerksam, dass sie erneuert und völlig verwässert worden war. Umfang, Urheber, Opfer und Charakter der Repressionen werden daraus nun nicht mehr ersichtlich. Fast gleichzeitig gab die Generalstaatsanwaltschaft bekannt, dass sie die Listen der Rehabilitierten überprüfen werde. Etwa bei Nazi-Kollaborateuren werde die Rehabilitierung rückgängig gemacht. Bürgerrechtsaktivisten befürchten, alles Erreichte werde nach und nach zunichtegemacht.

Als einzige namhafte Vertreterin des Kulturbetriebs wagte es die Direktorin des Puschkin-Museums in Moskau, Elisaweta Lichatschowa, die Schliessung des Gulag-Museums zu kommentieren. Sie erinnerte pikanterweise ausgerechnet an Stalins Bonmot von der «Dummheit, die an ein Verbrechen grenzt». Die Begründung der streitbaren Architekturhistorikerin dafür ist für das in Russland verbreitete Geschichtsverständnis vielsagend. Sie kritisierte die «Patrioten», die dachten, die Beschäftigung mit den stalinistischen Repressionen sei Wasser auf die Mühlen der Feinde Russlands. Das Gegenteil sei der Fall: «Nur wir können über unsere Vergangenheit sprechen, nur wir können sie auf irgendeine Weise erforschen und behandeln.»

Nicht ausgeschlossen ist, dass das Gulag-Museum mit veränderter Konzeption oder ohne das Begleitprogramm nach einer gewissen Zeit wieder öffnen darf. Eine rein innerrussische Angelegenheit, wie das Lichatschowa suggeriert, ist die Frage der Auseinandersetzung mit der sowjetischen Gewaltgeschichte aber nicht. Sie prägt das Handeln des Staates und die Reaktion der Gesellschaft darauf und bestimmt Russlands Zukunft mit. Das kann auch der Aussenwelt nicht gleichgültig sein, wie der Krieg gegen die Ukraine zeigt.

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