Der erste Gegner der Schweiz erlebt einen Höhenflug, nachdem der Regierungschef Viktor Orban den Fussball zur Chefsache gemacht und Millionen investiert hat. Dennoch profitierten seine Freunde davon mehr als der ungarische Fussball.

In Ungarn werden Erinnerungen an die «goldene Mannschaft» wach. Das Nationalteam rund um den Jahrhundertfussballer Ferenc Puskas gewann in den fünfziger Jahren Olympiagold sowie den Europapokal und blieb in 32 Pflichtspielen in Folge unbesiegt. Als grosser Favorit reiste Ungarn 1954 an die WM in der Schweiz, wo das Team den Final beim «Wunder von Bern» völlig überraschend gegen Deutschland verlor.

Zwar legte die Mannschaft danach eine weitere Serie von 18 Spielen ohne Niederlage hin. Aber mit dem verpassten WM-Titel begann ein Niedergang, der über die Jahrzehnte des kommunistischen Regimes und darüber hinaus andauerte. Seit 1986 hat Ungarn keine WM-Endrunde mehr erreicht.

Nun hat sich das Land aber nicht nur für die dritte EM in Folge qualifiziert. Ungarn schloss die Qualifikationsphase ungeschlagen auf dem ersten Platz ab und blieb ab November 2022 in 14 Spielen ohne Niederlage. Die Serie riss vergangene Woche ab nach einem Gegentreffer in der Nachspielzeit im Testspiel gegen Irland. Es ist aber dennoch die längste eines ungarischen Nationalteams seit der «goldenen Mannschaft».

Der Trainer Marco Rossi weist Vergleiche kategorisch zurück: Dieses legendäre Team sei in einer ganz anderen Liga und aus einer anderen Ära gewesen. Gezogen werden solche Vergleiche trotzdem – zumal der Captain Dominik Szoboszlai seit seinem Transfer in die Premier League zu Liverpool vor einem Jahr der erste ungarische Spieler bei einem europäischen Spitzenverein ist, seit Puskas in den sechziger Jahren für Real Madrid auflief.

Die Bevölkerung ist optimistisch, dass das Team die Gruppenphase übersteht

Entsprechend gross ist derzeit die Euphorie in Ungarn. Die Spieler blicken im Nationaltrikot von Plakatwänden, der Sender M4 zählt schon seit Wochen die Tage bis zum Anpfiff, und selbst Testspiele gegen Kosovo oder Israel waren innert Minuten ausverkauft. Laut einer Online-Umfrage des staatlichen Nachrichtenportals glauben nur zehn Prozent, dass Ungarn schon in der EM-Gruppenphase ausscheiden könnte. Viel häufiger hört man, das Team schaffe dieses Jahr eine Überraschung und stosse möglicherweise bis in den Viertel- oder den Halbfinal vor.

Experten sind skeptischer. Die Resultate der Mannschaft waren oft besser als ihre Spiele, und der nominell stärkste Gegner in der Qualifikationsgruppe war Serbien. Tatsache ist aber, dass Ungarn in den letzten Jahren stärker geworden ist. Es liegt auf Rang 26 der Fifa-Weltrangliste und stieg in den vergangenen Jahren aus der Liga C der Nations League in die Liga A auf.

Dieser Aufschwung freut vor allem Viktor Orban, sozusagen den «first fan» der Mannschaft. Der Regierungschef spielte nicht nur selber viele Jahre Amateurfussball, sondern hat ein fast schon wissenschaftliches Interesse an dem Sport. Er besucht regelmässig Spiele nicht nur der Nationalmannschaft und der höchsten ungarischen Liga, sondern auch Juniorenmatches. Der Journalist Pal Daniel Renyi schrieb in seinem 2021 erschienenen Buch «Zwang zum Sieg. Fussball und Macht in Orbans Welt», in dessen Kindheit im ländlichen, kommunistischen Ungarn sei Fussball eine der wenigen Möglichkeiten gewesen, einem trostlosen Alltag zu entfliehen.

Die Regierung pumpt Hunderte von Millionen in den Fussball

Schon vor seiner Rückkehr an die Macht vor mittlerweile 14 Jahren erklärte Orban, dass er den Fussball zu einer Priorität seiner Regierungsarbeit machen werde. Dieses Versprechen hielt er ein: Für umgerechnet Hunderte von Millionen Franken wurden landesweit Stadien gebaut oder modernisiert, Trainingsgelände geschaffen und Nachwuchsabteilungen unterstützt. Wichtig war darüber hinaus eine Gesetzesreform, die es erlaubt, Spenden für Sportvereine von den Steuern abzuziehen.

Das ist nicht nur Folge einer persönlichen Leidenschaft des Ministerpräsidenten, sondern auch Teil seiner politischen Strategie: Orban erkannte die Bedeutung sportlicher Erfolge für die Stimmung im Land, und wie die Fans der Nationalmannschaft bringen Anhänger seiner nationalkonservativen Partei Fidesz die Landesflagge zu Kundgebungen mit – die Bilder ähneln sich. Im Zusammenhang mit Sport gezeigter Nationalismus ist zudem unproblematisch und nicht befrachtet mit historischen oder politischen Kontroversen.

Heute ist Orbans Umfeld aufs Engste mit dem Fussball im Land verflochten. Fast alle Mannschaften der obersten Liga haben Verbindungen zum Fidesz. So ist der Präsident des Rekordmeisters und gegenwärtigen Titelhalters, Ferencvaros Budapest, Parteisekretär und Vorstandsmitglied. Der Cup-Sieger und Liga-Zweite, Paksi FC, wird von einem ehemaligen Mitglied der Orban-Regierung geführt, das ebenfalls für dessen Partei im Parlament sitzt.

Der Stammverein des Ministerpräsidenten ist indes Puskas Akademia aus seinem Heimatort Felcsut. Er wurde erst vor zwanzig Jahren als Nachwuchsmannschaft gegründet, erlebte in den letzten Jahren aber einen steilen Aufstieg und spielt auch nach dieser Saison wieder um einen Platz in der Uefa Conference League. Präsident war anfangs Orban selbst, heute ist es sein Jugendfreund Lörinc Meszaros, der in Orbans Regierungszeit auf wundersame Weise vom einfachen Gasinstallateur zu einem der reichsten Ungarn aufgestiegen ist.

Ein ewiger Geldkreislauf, von dem Orbans Umfeld profitiert

Die Verbindungen zur Politik zeigen auch die Problematik der grossen Investitionen in den Sport auf. So profitiert etwa Meszaros von Steuererleichterungen, wenn er Geld in seinen Fussballklub pumpt. Dieser kann mit den Mitteln wiederum das Unternehmen seines Präsidenten mit Bauarbeiten beauftragen. Es ist ein ewiger Geldkreislauf – nicht nur in Felcsut, sagt etwa der Journalist Peter Petö, der ebenfalls ein Buch über die Sportpolitik Orbans geschrieben hat.

Die Kosten des Neubaus des Nationalstadions Puskas Arena in Budapest wurden einst auf knapp 90 Millionen Franken veranschlagt, am Schluss beliefen sie sich auf fast 500 Millionen. Es ist damit eines der teuersten Stadien Europas, und Geschäftsleute in Orbans Umfeld verdienten mutmasslich mit. An der EM 2021 fanden in dem Stadion mit 67 000 Plätzen insgesamt vier Spiele statt, 2026 wird auch der Champions-League-Final dort ausgetragen.

Das bringt dem Land Prestige und Einnahmen. Aber profitiert der ungarische Fussball ganz konkret? Auch wenn die Leistungen der Nationalmannschaft darauf hindeuten, ist das zweifelhaft. So spiegeln sich die Popularität und der Erfolg des Nationalteams nicht im Klubfussball: Viele Spiele finden vor kleiner Zuschauerkulisse statt, und im Europacup scheitern ungarische Vereine zuweilen kläglich. Ferencvaros verpasste im letzten Jahr die Champions-League-Qualifikation gegen einen Provinzverein von den Färöern. Ungarns Klubfussball steht nur auf dem 24. Platz des Uefa-Länderkoeffizienten (Schweiz: 12).

Die Stars des Nationalteams spielen denn auch im Ausland, vor allem in Deutschland und England. Oft verliessen sie Ungarn schon im Teenageralter und profitierten damit nur begrenzt von den verbesserten Bedingungen. Dominik Szoboszlai etwa kam bereits als 16-Jähriger in die Akademie von Red Bull Salzburg.

Der langjährige Sportjournalist Peter Bernau sieht vielmehr im Coach Marco Rossi einen entscheidenden Erfolgsfaktor. Der Italiener, der auch die ungarische Staatsbürgerschaft hat, arbeitet seit zwölf Jahren in Ungarn und trainiert das Nationalteam seit 2018. Er nehme keine Rücksicht auf Stars und setze auf ein funktionierendes Mannschaftsgefüge. Zudem erkannte er die Möglichkeiten der von vielen Verbänden stiefmütterlich behandelten Nations League, in der Ungarn jüngst England und Deutschland schlug. Vor allem aber habe Rossi der Mannschaft italienische Effizienz beigebracht, während sie früher immer das schöne, offensive Spiel gesucht habe.

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