Das Palästina-Hilfswerk als Teil des Problems: Die einst stark kritisierte Analyse von Aussenminister Cassis ist mehrheitsfähig geworden.
Am Wochenende drohte der Druck auf den Bundesrat zu steigen. Aber alles blieb auffallend ruhig in Bundesbern. Man entscheide erst, wenn man mehr wisse, hiess es aus dem Aussendepartement (EDA) von Bundesrat Ignazio Cassis.
Am Freitag davor hatte Israel schwerwiegende Vorwürfe gegen das Uno-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) erhoben. Zwölf Mitarbeiter der Organisation seien demnach am Pogrom der Hamas vom 7. Oktober direkt beteiligt gewesen. Übers Wochenende haben mehrere wichtige Geldgeber wie Deutschland, Kanada und Grossbritannien angekündigt, ihre Zahlungen an das Hilfswerk auszusetzen.
Die Schweiz will zuwarten – ohne dabei rot zu werden. Die Eidgenossenschaft gehörte mit ihren jährlich 20 Millionen Franken ebenfalls zu den wichtigsten Unterstützern des Hilfswerks. Aber seit der vergangenen Dezembersession des Parlaments hat sich der hiesige Blick auf den Konflikt im Nahen Osten fundamental verschoben. Die Mehrheiten haben sich verändert. Heute würde Cassis allfällige Kürzungen von Hilfsgeldern an die UNRWA wohl durchbringen. Das stärkt die Position des Aussenministers. Rührt daher die neue Besonnenheit?
Lazzarini als Schweizer Schirmherr
David Zuberbühler hatte den Perspektivenwechsel im Parlament angeschoben. Mit einem Einzelantrag verlangte der Ausserrhoder SVP-Nationalrat im Rahmen der Budgetdebatte, die jährlich 20 Millionen Franken zugunsten der UNRWA ganz zu streichen. Im Nationalrat wurde die Forderung lange Zeit auch von der FDP und der Mitte-Partei mitgetragen.
Der Ständerat arbeitete schliesslich auf eine Kompromisslösung hin. Die 20 Millionen Franken werden zwar halbiert. Der Bundesrat kann aber selbst entscheiden, wie viel die Schweiz dem Hilfswerk überweisen soll. Schliesslich aber – und das ist nun entscheidend – muss die Landesregierung für jeden UNRWA-Rappen zuerst die beiden aussenpolitischen Kommissionen (APK) des Parlaments konsultieren.
Diese haben zwar kein Vetorecht, aber der Bundesrat dürfte klare Mehrheiten in den Kommissionen nicht allzu leichtfertig übersteuern. Falls die Landesregierung also zum Schluss kommen sollte, die Gelder für UNRWA zu stoppen, müssten die beiden APK diesen Entscheid legitimieren. Den Freunden von Palästina gehen dabei die Argumente aus.
So sitzen etwa mit dem Genfer Ständerat Carlo Sommaruga, dem Zürcher Nationalrat Fabian Molina oder mit der St. Galler Nationalrätin Claudia Friedl auch linke Exponenten in den Kommissionen, die nach dem 7. Oktober weiterhin mit sehr viel Verständnis für die palästinensische Seite auffallen. So kämpfte im Dezember etwa Friedl gegen die geplanten Kürzungen, indem sie die UNRWA mit Swissness labelte. Mit Generalsekretär Philipp Lazzarini wache ja immerhin ein Schweizer darüber, dass sich das Hilfswerk nicht des Antisemitismus schuldig mache, argumentierte Friedl in der Debatte.
Lazzarini selbst reagierte schockiert auf die Aussetzung der Hilfsgelder. Es sei unverantwortlich, eine gesamte Organisation wegen Vorwürfen gegen einzelne Mitarbeiter zu bestrafen. Er könne es nicht ausschliessen, «dass sich von unseren 30000 Mitarbeitern in der gesamten Region nicht immer alle korrekt und wertschätzend verhalten», sagte Lazzarini im Dezember am Rand der Budgetdebatte im Parlament in einem Interview mit den Zeitungen der TX-Group.
Dieser stark relativierende Blick auf den Nahen Osten ist auch unter Diplomaten im EDA weit verbreitet. Die Mentalität des diplomatischen Personals wird immer noch von der Ära Micheline Calmy-Rey geprägt. Die SP-Bundesrätin setzte sich in den nuller Jahren stark für eine Zweistaatenlösung ein. Man hoffte, dass man mit der Hamas über Frieden sprechen könne. Allerspätestens am 7. Oktober dürfte klar geworden sein, dass dieser Ansatz gescheitert ist.
Cassis war indes schon länger klar, dass die UNRWA mit ihrer Too-big-to-fail-Stellung innerhalb der palästinensischen Bevölkerung nicht förderlich ist für eine friedliche Perspektive. Nach seinen Aussagen von 2018, die UNRWA sei nicht Teil der Lösung, sondern des Problems, wurde Cassis von den Medien, der Politik sowie weiten Teilen der diplomatischen Welt kritisiert.
Cassis greift durch
Dass Cassis nach der erfolgreichen Wiederwahl im Dezember seinen Mut wiedergefunden hat, davon zeugt auch die Personalie Andrea Studer. Jüngst wurde bekannt, dass die Vizedirektorin der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) ihren Posten räumen muss. Studer war zuständig für das Nahost-Dossier. Laut Medienberichten soll ihr Abgang mit der Überprüfung von palästinensischen Nichtregierungsorganisationen zu tun haben. Die Details bleiben unklar. Aber Cassis dürfte sich zumindest von Studer, auch ein «Kind» der Calmy-Jahren, übergangen gefühlt haben.
Die aussenpolitische Kommission des Nationalrats wird sich derweil schon am Dienstag mit den UNRWA-Geldern befassen. Pierre-André Page hat den Antrag gestellt, gar kein Geld an das Hilfswerk zu überweisen, bis die Vorwürfe geklärt seien. Der Freiburger SVP-Nationalrat gehörte wie Zuberbühler einer Delegation an, die vor einem Jahr UNRWA-Einrichtungen in Bethlehem besuchen wollte. Laut eigenen Angaben sei man aber daran gehindert worden. Die beiden kamen wie einst Cassis mit einem komischen Gefühl im Bauch zurück in die Schweiz. Die Skepsis gegenüber dem UNRWA ist unter tragischen Umständen mehrheitsfähig geworden.