Freitag, Dezember 27

Der Klimawandel verursache keine Massenflucht nach Europa, sagt der Umweltingenieur Jan Freihardt. Zur internationalen Migration motivieren viel eher wirtschaftliche Gründe.

Das Thema Klimamigration wird in der öffentlichen Debatte immer präsenter. Herr Freihardt, Sie macht das unglücklich. Warum?

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Weil eine sachliche Auseinandersetzung mit dem Thema gegenwärtig kaum möglich ist. Es werden Perspektiven verdreht und Vorstellungen kreiert, die mit der Wirklichkeit nur noch indirekt etwas zu tun haben. Wir sehen Foto- oder Videoaufnahmen von Zyklonen in Bangladesh oder Dürren in Subsaharaafrika, wo die Leute nichts mehr anbauen können, weil es nichts mehr gibt, was als Acker genutzt werden könnte. Sofort klingt dieses Narrativ plausibel: Im globalen Süden sind alle arm, halten es in ihrem Land nicht mehr aus und wollen weg – also kommt es zu einer Massenflucht nach Europa. Unser Bild von Klimaflucht ist faktisch falsch. Trotzdem wird es von Politikern und den meisten Medien weiter verbreitet.

Massenmigration nach Europa ist doch ein Fakt.

Ja, Menschen fliehen über das Meer und ertrinken. Auf Grundlage dieser Beobachtungen scheint auch das Narrativ der Klimaflucht stimmig. Der Klimawandel bedroht ja tatsächlich heute schon die Lebensgrundlage von Millionen. Sogar in Europa sehen wir erste Klimafolgen, etwa Waldbrände im Mittelmeerraum, die in drei von fünf Jahren das Land verheeren. Und im globalen Süden gibt es viel extremere Auswirkungen, wie Dürren, Stürme und Fluten. Da klingt es intuitiv richtig zu sagen: Deshalb machen sich in Zukunft immer grössere Menschenmassen auf ins sichere Europa. Aber Forschung zeigt: Das ist ein Irrtum. Ja, viele Menschen dürften infolge von Dürren, dem steigenden Meeresspiegel oder Wetterextremen dereinst ihre Heimat verlassen. Nur: Wohin gehen sie? Hier fehlt die Differenzierung.

Zur Person

Daniel Winkler / ETH

Jan Freihardt – Forscher an der ETH Zürich

Der Umweltingenieur und Politikwissenschafter arbeitet am Lehrstuhl für Global Health Engineering zu klimabedingter Migration und Klimaanpassung.

Wenn nicht nach Europa, wohin ziehen die Menschen dann?

Die Leute leisten extrem viel, um ihre Heimat erst gar nicht verlassen zu müssen. Oder wenn, dann nicht weiter zu gehen als unbedingt nötig; was oft genug bedeutet, im Nachbardorf neu anzufangen. Die meisten Menschen bleiben also trotz widrigen Umständen durch Klimafolgen dort, wo sie sind. Diese Tendenz ist durch viele Studien belegt, auch unsere eigene aus Bangladesh stützt diese Erkenntnis. Ausserdem kostet eine Migration in den globalen Norden für die meisten Bewohner der von Klimafolgen verheerten Gebiete zu viel Geld. Wie viele Leute kommen wollen und wie viele das überhaupt können, da unterscheiden sich Wahrnehmung und Realität extrem.

Wassermassen, die Häuser mit sich reissen, sind Realität. Auch in Bangladesh. Wollen die Leute nicht weg von dieser Gefahr?

In Bangladesh, aber auch in anderen Ländern des globalen Südens besteht der Überlebensmechanismus vor allem aus gewachsenen Sozialstrukturen. Es gibt ja die Annahme, dass mit zunehmender Ressourcenknappheit und Krise die Ellbogen mehr ausgefahren werden. Wir haben das Gegenteil beobachtet. Wenn jemand sein Haus verloren hat, findet er beim Nachbarn eine Bleibe. Bis dann dessen Haus zerstört wird und es nochmals hundert Meter weiter geht, zum nächsten. Häufig wohnen sechs Menschen in einem Raum von vielleicht fünfzehn Quadratmetern. Dann nimmt der Fluss wieder ein Haus mit, und es kommen ganz selbstverständlich vier weitere Leute dazu. Dieses Überlebensnetzwerk wird niemand leichtfertig verlassen. Zudem haben die Menschen neben Freunden und Familie auch tägliche Gewohnheiten, denen sie nachgehen. Vielleicht besitzen sie ein Stück Land, das sie bearbeiten. Und auch spirituelle Gründe spielen eine wichtige Rolle. Die Gräber von Vorfahren etwa stärken die Bindung zu einem Ort.

So eine Bindung hat Grenzen. Wer gesehen hat, wie sein Zuhause zerstört wird, harrt doch nicht aus und wartet auf Wiederholung.

Das hat uns auch sehr überrascht. Wir waren bei unserem ersten Besuch auf dem Marktplatz eines Dorfes und haben Tee getrunken; gegenüber befand sich ein riesiger Bananenhain. Ein Jahr später kamen wir wieder, und der Fluss hatte den gesamten Hain weggespült. Wir sind mit der Annahme angekommen, dass die Leute nach so einer Erfahrung möglichst weit entfernt einen Neuanfang machen werden. Stattdessen haben wir viele Familien kennengelernt, die sagen: Solange das Dorf hier ist, bleiben wir. Viele dieser Leute haben ihr Zuhause schon drei- oder viermal verloren und es jedes Mal wieder aufgebaut. Dafür mussten sie Kredite aufnehmen. Irgendwann waren sie so verschuldet, sie hatten gar nicht mehr die Mittel, um in eine Stadt wie Dhaka zu ziehen. Migration in ein Land des globalen Nordens? Das ist für diese Leute unmöglich.

Eroding Horizons. A Village on the Move.

Für die Ufer des Flusses, an dem Sie geforscht haben, spielt der Klimawandel als Ursache nur eine Nebenrolle. Lassen sich Ihre Erkenntnisse überhaupt auf andere Regionen übertragen?

Die Ufer des Jamuna erodieren vor allem wegen des sandigen Grunds. Aber zum einen verstärken sich durch den Klimawandel die Monsunfälle, was das Problem verschärft. Zum anderen halte ich es sowieso für plausibel, dass das Verhalten von Menschen sich nicht grundlegend ändert, nur weil eine Überschwemmung ursächlich auf den Klimawandel zurückzuführen ist. Im Gegenteil: Weil die Siedlungsgebiete um den Jamuna schon heute heftig von den Auswirkungen von Erosion betroffen sind, eignen sie sich besonders gut als Fallstudie für Prognosen. Welche Trends und Tendenzen entwickeln sich wohl in Regionen, in denen künftig immer häufiger Extremereignisse eintreten? Für Gebiete, in denen es nicht so heftig wird, gelten unsere Ergebnisse erst recht: Dort bleibt mehr Zeit, sich anzupassen.

Wenn das Narrativ von internationaler Klimaflucht so falsch ist, weshalb hält es sich so hartnäckig?

Ich denke, dass diese scheinbar simple Gleichung, «viel Krise, also viel Flucht», intuitiv sehr stark verfängt. Ich habe ja genauso gedacht, bevor ich begonnen habe, mich wissenschaftlich mit dem Thema zu beschäftigen. Und was verfänglich ist, wird von politischen Kräften genutzt. Das Narrativ der Klimaflucht spielt rechts wie links gut in die jeweilige Agenda. In der Schweiz spielt die SVP das Thema der Migration seit Jahren. Und auch in Deutschland ist es im anstehenden Wahlkampf wichtig. Die einen sagen, wir müssen schnell Mauern hochziehen. Die anderen sagen, wir müssen hierzulande mehr Hilfsstrukturen schaffen, weil in Zukunft noch viel mehr Menschen kommen werden. Politisch haben die Parteien aus dem linken und dem rechten Spektrum völlig unterschiedliche Motivationen. Indem aber beide Seiten das Bild der Klimaflucht falsch zeichnen, tragen alle dazu bei, die Wirklichkeit zu verzerren.

Was wäre das richtige Bild von Klimaflucht?

Wer über Klimamigration spricht, der redet eigentlich über Wirtschaftsmigration. Es sind Unterschiede im Lohnniveau und in der Verfügbarkeit von Arbeit, weshalb Menschen aus dem globalen Süden sich in den Norden aufmachen. Neben Kriegen sind bessere ökonomische Bedingungen seit je die Hauptmotivation, um zu migrieren. Klimafolgen verstärken diese Dynamik, indem sie das wirtschaftliche Ungleichgewicht weiter verschärfen. Wenn ich zu den Fakten stehe und sage, es seien nicht die unkontrollierbaren Stürme, Fluten und Dürren, sondern die durchaus beeinflussbare ökonomische Situation, die die Leute antreibe, dann ist die klare Lösung eine globale Umverteilung. Es müsste sehr viel Geld in den Süden fliessen, damit die Leute dort sich in ihrem Lebensniveau dem Norden angleichen können. Ohne Ungleichheit bleibt keine Notwendigkeit, wegzugehen. Der Weg nach Europa ist gefährlich. Da sterben viele. Wieso sollte ich das riskieren, wenn ich ein gutes Leben habe oder zumindest eines, von dem ich sage, es sei okay?

Umverteilung ist beliebt, wenn das Geld im eigenen Land bleibt. Milliardeninvestitionen auf fernen Kontinenten sind eher unpopulär.

In ganz Europa ist das ein wichtiges Wahlkampfthema. Derzeit vor allem in Deutschland. Ein Bekannter von mir arbeitet am deutschen Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung; er und seine Kollegen müssen sich regelmässig dafür rechtfertigen, dass Millionen- oder gar Milliardensummen ausserhalb des Landes fliessen, während die eigene Wirtschaft schwächelt. Dass genau das aber passieren muss, wurde auf der Weltklimakonferenz in Baku beschlossen. Und diese Beschlüsse entstehen ja nicht aus Nächstenliebe: Das beste Mittel, um Fluchtursachen zu bekämpfen, ist, dafür zu sorgen, dass es den Leuten dort, wo sie herkommen, bessergeht. Die EU versucht mit dem Lieferkettengesetz so einen Ansatz.

Sie haben die schwächelnde Wirtschaft angesprochen. Gerechtigkeit klingt gut, aber können wir sie uns leisten?

Es gibt Berechnungen: Würden die Leute zu den gleichen Sicherheitsstandards wie hierzulande arbeiten und, gemessen an der Norm ihres Landes, fair verdienen, würden ein T-Shirt oder ein Pulli nur wenig teurer werden als 50 Rappen. Die grossen Kosten sind Logistik und Einzelhandel, Personalkosten sind verschwindend gering. Dass Gerechtigkeit andernorts Produkte für uns teurer macht, ist noch so ein Narrativ, das erfolgreich verfängt. In gesellschaftlichen Debatten geht es inzwischen zu oft um Framing, Narrative, Marketing von Botschaften, die mit einer wissenschaftlich fundierten Wirklichkeit zu wenig zu tun haben.

Was müsste sich am Narrativ der Klimaflucht ändern?

Moralisch verwerflich finde ich, dass sich die Industriestaaten durch das Narrativ der Klimaflucht ihrer Verantwortung verweigern. Der Klimawandel ist zu mehr als 80 Prozent von Einwohnern der G-20-Staaten verursacht. Wer dann über Einwohner des globalen Südens sagt, «die fliehen vor den Klimafolgen alle zu uns», verbreitet nicht nur Unsinn, sondern richtet seinen Fokus auf sich selbst, statt darauf, was die Leute brauchen, um bleiben zu können, wo sie leben. Dorfbewohner haben mir immer wieder Fotos und Videos geschickt, die zeigen, wie Häuser davongeschwemmt werden. Oft zusammen mit Nachrichten, dass sie dem ausgeliefert seien, dass niemand helfe. Das zu sehen und nichts tun zu können, ist schlimm. Aber wir sind nun einmal keine NGO, wir sind Wissenschafter. Und unsere Forschung ist eindeutig: Solange es geht, wollen die meisten Menschen trotz Klimafolgen in ihrer Heimat bleiben.

Ein Artikel aus der «»

Exit mobile version