Freitag, Oktober 18

Mit seinem Frontalangriff auf Israel hat der getötete Hamas-Chef die Terrororganisation in den Untergang geführt. Jetzt muss sie sich neu aufstellen. Doch das ist ein schwieriges Unterfangen.

Vor knapp einem Jahr, kurz nach Beginn des Krieges in Gaza, lud die Hamas beinahe wöchentlich zu einer Pressekonferenz in die Vorstadt Dahiye im Süden von Beirut. In einer unscheinbaren Wohnung trat ihr Sprecher Usama Hamdan vor die Mikrofone der Journalisten, verkündete entweder Siegesmeldungen oder klagte Israel des Völkermords an. Ein Technikteam stellte einen Flachbildschirm auf, wo stets die neusten Todeszahlen aus dem Küstenstreifen eingeblendet wurden.

Inzwischen zeigen sich die Hamas-Vertreter in der libanesischen Hauptstadt kaum noch, und das Viertel, in dem die Pressekonferenzen stattfanden, wird von Israels Luftwaffe bombardiert. Als am Donnerstagabend bekanntwurde, dass Yahya Sinwar, Politbüro-Chef und Hauptverantwortlicher für das Massaker vom 7. Oktober, von israelischen Truppen in Gaza getötet wurde, blieb die Hamas ebenfalls stumm. Bis Freitagmittag hatte sie sich zu dem hochrangigen Verlust immer noch nicht geäussert.

Eine zerrüttete Organisation

Sinwar war gerade einmal zwei Monate lang Hamas-Chef. Er folgte auf Ismail Haniya, der am 31. Juli bei einem mutmasslich israelischen Anschlag in Teheran ums Leben gekommen war. Viel bewegt hat der 61-Jährige in seiner kurzen Amtszeit – die er isoliert und versteckt im zerstörten Gazastreifen verbrachte – nicht. Allerdings hatte er seine Organisation schon zuvor in den Abgrund gestürzt: als er als Gaza-Chef der Hamas eigenmächtig den Terrorangriff auf Israel befahl.

Denn vor dem 7. Oktober befand sich die Hamas auf dem Höhepunkt ihrer Macht: In Gaza herrschte sie mit eiserner Faust und verfügte nicht nur über Tausende Kämpfer, sondern auch über eine eigene Regierung. In der von Iran angeführten, selbsterklärten «Achse des Widerstands» hatten die palästinensischen Islamisten ein gewichtiges Wort mitzureden. Der Konkurrenz des Palästinenserpräsidenten Mahmud Abbas und der Fatah waren sie enteilt. Sogar Israel verhandelte immer wieder indirekt mit der Hamas.

Ein Jahr später ist davon nichts mehr übrig. Wer auch immer auf Sinwar folgt, übernimmt eine zerrüttete Organisation, deren Kämpfer in den Ruinen von Gaza einen aussichtslos scheinenden Guerillakrieg gegen eine erdrückende Übermacht führen. Hilfe von aussen ist keine in Sicht, seit Israel dem Hizbullah – dem mächtigen Verbündeten der Hamas – in einem Blitzfeldzug schwere Verluste zugefügt und dessen Chef Hassan Nasrallah getötet hat. Der Krieg ist den Palästinensern längst völlig entglitten.

Zu Befehlsempfängern degradiert

Ausgerechnet in dieser Situation muss sich die Hamas jetzt neu aufstellen. Als Kandidaten für den Chefposten gelten Sinwars Stellvertreter Khalil al-Haya sowie Khaled Mashal, ein Veteran, der die Truppe schon von 1996 bis 2017 geführt hatte. Mashal ist das Gegenteil von Sinwar: Er verbrachte fast sein ganzes Leben im Exil und ist eher in den Korridoren der Macht zu Hause als auf dem Schlachtfeld. Zudem verfügt er über gute Kontakte zu den Golfstaaten. Er könnte daher versuchen, die Reste der Organisation zu einem Abkommen mit Israel zu führen und den Krieg zu beenden.

Allerdings ist fraglich, ob die Hamas überhaupt noch Herr im eigenen Haus ist. Denn Mashal war schon einmal dabei gescheitert, erneut die Kontrolle zu übernehmen. Im August hatten angeblich Iran und der Hizbullah seine Inthronisierung als Nachfolger des getöteten Haniya erfolgreich hintertrieben. Der in Doha residierende Mashal war ihnen offenbar nicht treu genug. Stattdessen forcierten sie die Wahl Sinwars – obwohl dieser schon damals als toter Mann galt und von seinem Aussenposten in Gaza alles andere als geeignet war, die Organisation zu führen.

Die Episode zeigt, in welchem Masse die einst eigenständigen Palästinenser infolge des desaströsen Gaza-Krieges zu Befehlsempfängern Teherans degradiert worden sind. Ob es den verbliebenen Kaderleuten gelingen wird, sich aus dieser Umklammerung zu befreien, ist fraglich. Entgegenkommen könnte ihnen immerhin, dass Teheran inzwischen weitaus grössere Probleme hat. Neben der Hamas müssen die Iraner nämlich inzwischen auch den führungslosen Hizbullah am Leben erhalten, der sich in Libanon einer israelischen Bodenoffensive entgegenstellt.

Nicht zum ersten Mal mit dem Rücken zur Wand

Ein Führer wie Mashal dürfte aber nicht nur in Teheran auf Widerstand stossen. Auch in Gaza kann er sich seiner Gefolgschaft nicht allzu sicher sein. Zwar ist die Hamas dort bei vielen Palästinensern trotz ihrer suizidalen Politik und den Zehntausenden Toten immer noch populär. Doch die Verehrung gilt mehrheitlich der kämpfenden Truppe im Feld, nicht etwa den Exilanten in Doha oder Istanbul. Zudem ist unklar, ob die als Sinwar-treu geltenden Hamas-Kämpfer der Kassam-Brigaden eine neue Führungsmannschaft aus der Ferne überhaupt akzeptieren würden.

Allerdings steht die Hamas nicht zum ersten Mal in ihrer Geschichte mit dem Rücken zur Wand. Zu Beginn der nuller Jahre musste die Organisation schon einmal vernichtende Schläge hinnehmen. Damals hatte sie während der zweiten Intifada ihr Blatt mit Selbstmordattentaten überreizt. Israel schlug zurück, dezimierte die Hamas-Kader und tötete sogar ihren Gründer, Scheich Ahmed Yassin. Die erschöpfte Gruppe schaffte es jedoch, sich wieder aufzurichten.

Angeführt von Leuten wie Mashal oder Haniya, schwenkte sie um vom nihilistischen Kampf in die Politik, gewann die palästinensischen Wahlen von 2006 und legte so den Grundstein für ihre spätere Machtübernahme in Gaza. In der Folge wurden die Islamisten, die erst in den achtziger Jahren aus dem palästinensischen Flügel der Muslimbrüder hervorgegangen waren, zur bestimmenden Kraft in der palästinensischen Politik. Jetzt, nach dem Tod Sinwars, müssen sie wieder ganz von vorne anfangen.

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