Freitag, Oktober 18

Mit seinen Äusserungen zu Israel und Russland zeigt der brasilianische Präsident, dass er autoritären Regimen heute näher steht als den westlichen Demokratien. Lula reagiert damit auf die neuen Machtverhältnisse in der Weltpolitik.

Vor dem Aussenministertreffen der G-20 in Rio de Janeiro hat der brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva mit mehreren polemischen Äusserungen unmissverständlich klargemacht, wo er Brasilien und sich selbst politisch in der Welt derzeit positioniert: immer weniger im Westen und zunehmend an der Seite von Diktaturen wie Russland, China oder Venezuela.

Auf einer Pressekonferenz zum Abschluss des Afrikagipfels in Äthiopien richtete Lula in wenigen Minuten einen massiven Schaden an – «für Brasilien und sich selbst», wie Rubens Ricupero urteilt, der Doyen der brasilianischen Diplomatie.

Die stärksten Reaktionen löste sein Vergleich der Attacken Israels auf Palästina mit Hitlers Holocaust aus. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu nahm dankbar die Steilvorlage auf, um selbst heftig auszuteilen: Lula wurde zur Persona non grata erklärt. Der israelische Aussenminister las dem in die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem einbestellten brasilianischen Botschafter vor lokalen Pressevertretern auf Hebräisch die Leviten – obwohl der brasilianische Diplomat ihn offensichtlich nicht verstehen konnte.

Israel und Brasilien beschuldigen sich gegenseitig

Absurd sei das, protestierte Lulas aussenpolitischer Berater Celso Amorim und sorgte dafür, dass der brasilianische Botschafter nach Brasilia zu Beratungen einberufen wurde. Tatsächlich sei Israel der unerwünschte Akteur in der Weltpolitik, erklärte der 81-jährige Amorim, der bereits von 2003 bis 2010 Aussenminister Brasiliens unter Lula gewesen war.

Im gleichen Pressegespräch lehnte Lula auch ab, Russlands Regime für den Tod des russischen Oppositionellen Alexei Nawalny verantwortlich zu machen. Denn die Todesursache stehe nicht offiziell fest. Auch die Verhaftung der oppositionellen Menschenrechtsaktivistin und Anwältin Rocío San Miguel in Venezuela wollte er nicht kommentieren.

Das alles ist nicht neu: Lula hat aus seiner offenen Sympathie für Russlands Diktator Wladimir Putin und seiner Abneigung gegen den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski nie ein Hehl gemacht. Er verteidigt den venezolanischen Diktator Maduro als Demokraten. Er macht, wie die meisten Linken in Südamerika, Israel für den neuen Krieg im Nahen Osten verantwortlich. Gerade erklärten die beiden linken Präsidenten Boliviens und Kolumbiens Lula ihre Solidarität im Streit mit Israel.

Doch mit seinem zynischen Holocaust-Vergleich und der Verteidigung von Putins mörderischem Regime hat Lula im Westen den Bogen überspannt. Mit seinem Schulterschluss mit Regimen wie Russland und China bricht Lula mit der traditionellen Leitlinie der brasilianischen Aussenpolitik.

«Lula verteidigt nicht mehr die westlichen Grundsätze»

Lateinamerikas grösstes Land galt immer als Verteidiger einer multipolaren, regelbasierten Weltordnung. Doch Lula ignoriere jetzt die demokratischen Grundsätze und die Menschenrechtscharta der brasilianischen Verfassung, sagt Ricupero. «Er verteidigt nicht mehr die westlichen Grundsätze.»

Und geopolitisch – das scheint die Sichtweise Lulas – zählen die vereinten Diktaturen von Russland, Iran und China derzeit zu den Gewinnern in der Weltpolitik. Sie treiben Europa und die USA vor sich her und bringen sie unter Druck wie noch nie zuvor.

Wer Lula jetzt einen ideologischen Wandel unterstellt, der unterschätzt, dass er immer ein Realpolitiker war. Stets war er bereit, seine Überzeugungen anzupassen, wenn ihm das für einen Wahlsieg oder bei der Machtausübung hilfreich erschien.

Dennoch ist Lulas Hinwendung zu den Autokraten verwunderlich angesichts seines persönlichen Werdegangs: Sein Aufstieg vom Gewerkschaftsführer, der eine Diktatur herausforderte und schliesslich zum Präsidenten gewählt wurde, war nur in einer Demokratie möglich. Regime wie das in China oder Russland würde ein Gewerkschaftsführer Lula heute kaum überleben.

Keine Solidarität mit unterdrückten Oppositionellen

Doch das scheint er zu ignorieren. Das ist für viele enttäuschend. Vor allem für die heutigen Oppositionellen der Regime in Caracas, Moskau oder Peking. Diesen gegenüber ist Lula nicht bereit, die gleiche Solidarität zu zeigen, die er damals erhalten hat.

Lulas Parteinahme für Russland und gegen Israel bekommt derzeit besondere Aufmerksamkeit: Denn Brasilien hat dieses Jahr den Vorsitz bei der G-20, dem Forum von wichtigen Industrie- und Schwellenländern. Diese Woche versammeln sich die Aussenminister in Brasilien, nächste Woche treffen sich die Finanzminister. Doch nun kann Lula schlecht für seine angestrebte Rolle als Sprecher des «globalen Südens» werben. Die brasilianische Diplomatie ist mit Schadensbegrenzung beschäftigt.

Wegen Israel verliert Lula die Evangelikalen erneut

Auch innenpolitisch hat Lula sich ins eigene Bein geschossen: Mit dem Holocaust-Vergleich bringt er die mächtige Wählergruppe der Evangelikalen gegen sich auf. Die sehen sich als natürliche Verbündete Israels. Lula versuchte gerade eine Annäherung an die wahlentscheidenden Pfingstkirchen.

Doch nun werden sie wahrscheinlich zahlreich erscheinen bei der für Sonntag geplanten Solidaritätsdemonstration für den abgewählten Präsidenten Jair Bolsonaro. Dessen Anhänger wollen ihn stärken, da die Justiz gegen den Rechtspopulisten wegen der Planung eines Putsches nach seiner verlorenen Wahl ermittelt.

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