Montag, Oktober 14

Fast alle Firmen definieren mit viel Aufwand Leitprinzipien für ihre Arbeit. Doch diese sind oft nutzlos – oder bewirken gar das Gegenteil.

Vor einigen Wochen erhielt ich eine E-Mail von einer Geschäftsleitung eines Schweizer KMU, das Unterstützung bei der Erneuerung seiner Unternehmenswerte suchte. Sie hätten darüber nachgedacht, ob sie die bestehenden Werte mithilfe von Chat-GPT anpassen oder neue Werte entwickeln sollten. Ich musste schmunzeln.

Nahezu jedes Unternehmen hat Werte definiert. Sie dienen als Leitprinzipien für Verhalten und Entscheidungen und prägen die Unternehmenskultur. Zumindest in der Theorie. In der Praxis führen Werte nicht selten zu Zynismus oder verpuffen wirkungslos. Dafür sehe ich mehrere Gründe.

Austauschbare Werte

Erstens sind Werte oft so generisch, dass sie austauschbar erscheinen. Begriffe wie Respekt, Verantwortungsbewusstsein und Integrität liest man überall – von der Versicherungsbranche bis zum Baugewerbe. Die Differenzierung ist gleich null. Eine Studie der Marketingberatung Rainmaker analysierte die selbstdeklarierten Werte der hundert grössten Schweizer Arbeitgeber.

Insgesamt wurden 130 verschiedene Werte genannt, doch es gab viel Redundanz: Innovation und Kundenfokus tauchten bei 35 Prozent der Arbeitgeber auf. «Werte wie Vertrauen und Innovation sind so weichgespült, dass alle so weitermachen können wie bisher», sagte Carsten Schermuly, Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie, in einem Vortrag.

Zynismus entsteht, wenn der in den Werten definierte Anspruch und die gelebte Realität auseinanderklaffen. Volkswagen, Wells Fargo und Barclays betonten Ethik oder Integrität in ihren Unternehmenswerten, bevor ihr Fehlverhalten öffentlich wurde. Oft sind Werte eher fromme Wünsche als Aussagen über die tatsächlich gelebte Kultur.

Eine Studie des Massachusetts Institute of Technology (MIT) verglich die deklarierten Werte von 500 grossen amerikanischen Unternehmen mit den Mitarbeitereinschätzungen auf der Arbeitgeber-Bewertungsplattform Glassdoor. Die Analyse ergab, dass kaum Zusammenhänge zwischen den veröffentlichten Werten und deren Wahrnehmung durch die Mitarbeitenden bestehen.

Verständlicher Zynismus

Schlimmer noch: Vier von neun Werten – Zusammenarbeit, Kundenorientierung, Umsetzungsorientierung und Vielfalt – waren sogar negativ korreliert, was bedeutet, dass es den Unternehmen in der Realität genau an diesen Werten mangelte. Welche Ironie. Da ist der Zynismus verständlich.

Doch das grösste Problem ist, dass Werte als abstrakte Begriffe wahrgenommen werden und es unklar ist, welches Verhalten daraus folgen soll. Dies erschwert die Umsetzung im Arbeitsalltag. «Wir haben zwar Werte, aber jeder interpretiert sie anders», erzählte mir eine Kundin. Missverständnisse, Konflikte und fehlende Wirkung sind die logische Folge.

Wohlklingende Wertekataloge reichen also nicht aus. Doch wie können Unternehmen Werte glaubwürdig formulieren und im Alltag tatsächlich leben?

Einerseits ist es entscheidend, Werte zu formulieren, die für das Unternehmen wirklich wichtig sind und es von seinen Wettbewerbern differenzieren. Dafür sollten Unternehmen Werte weglassen, die bei anständigen Menschen vorausgesetzt werden können. Denn wer beschäftigt schon Menschen, denen man erklären muss, dass sie sich respektvoll verhalten sollen?

Auswahl begrenzen

Ebenso sollte man die Anzahl der Unternehmenswerte begrenzen. Niemand kann sich fünfzehn Begriffe merken, geschweige denn das eigene Verhalten in jeder Situation danach ausrichten. Experten sagen, dass die Obergrenze bei fünf Werten liege. Pluspunkte gibt es für Firmen, die ihre Werte in einem Akronym zusammenfassen können.

Wenn die Werte definiert sind, müssen sie in konkrete Verhaltensweisen übersetzt werden. Was bedeutet Exzellenz konkret? Was meinen wir, wenn wir Transparenz fordern? Diese Operationalisierung bietet Orientierung. Die Übersetzungsleistung muss jede Abteilung für sich selbst erbringen, denn es ist logisch, dass der Wert Kreativität in der Buchhaltung ganz anders ausgelegt wird als in der Innovationsabteilung.

Danach sollen die Werte im Alltag sichtbar gemacht werden. In manchen Unternehmen werden sie bloss als Aufkleber in den Toiletten angebracht. Das reicht nicht. Werte können ganz konkret bei der Lösungsfindung helfen: «Wenn wir dieses Problem aus der Perspektive der Kundenzentrierung betrachten, was ist dann die Lösung?»

Oder man kann die Werte in Sitzungen integrieren, indem jede Person zu einem der Werte eine persönliche Anekdote erzählt. Und nicht zuletzt müssen die Führungskräfte die Unternehmenswerte vorleben. Denn wenn Mitarbeitende immer wieder erleben, dass die Werte von oben missachtet werden, ist Zynismus programmiert.

Bis heute habe ich vom eingangs erwähnten KMU nach dem ersten Kennenlerntermin nichts mehr gehört. Bleibt zu hoffen, dass die Geschäftsleitung sich ernsthaft mit dem Überarbeiten und Umsetzen ihrer Unternehmenswerte auseinandersetzt. Denn alles andere ist ziemlich wertlos.

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