Mittwoch, April 2

In Toronto leben so viele Kulturen miteinander wie nirgendwo sonst auf der Welt. Besuch in einer Metropole, von der man viel lernen kann.

Am Ende des ersten Tages sind wir uns sicher: Da muss etwas im Trinkwasser sein! Oder vielleicht in der Luft? Ein Molekül der Menschlichkeit. Oder ein zusätzliches Gen, ein Charme-Chromosom? Was auch immer es ist: Es steht der Stadt gut zu Gesicht. Die Studenten neben uns im Restaurant, die ältere Dame im Park, der Verkäufer im Schuhladen, die Uber-Fahrerin: Auf wen immer wir treffen, selten haben wir so oft in lächelnde Gesichter geschaut, sind wir so schnell mit wildfremden Menschen ins Gespräch gekommen, wurde uns so bereitwillig Hilfe angeboten – gefragt und ungefragt. «Oh, ihr seid zu Besuch in Toronto? Awesome! Dann müsst ihr unbedingt noch zu . . .»

Klar haben unsere Eltern uns grossgezogen mit der Maxime, nett zu allen Menschen zu sein, die Nachbarn freundlich zu grüssen, immer schön brav «bitte» und «danke» zu sagen. Spielregeln des Miteinanders, die in fast allen Ländern der Erde gelten, sich rund um den Globus gleichen, von Auckland bis Zürich. Und doch hat man das Gefühl, dass sie sich in den vergangenen Jahren abgenutzt haben, abgeschliffen durch zu viele Alltagssorgen. Der Ton ist rauer geworden. Längst ist der Beifall der klatschenden Menschen auf den Balkonen verhallt, ist nach der Pandemie nicht viel mehr übrig geblieben als Ernüchterung und Schuldzuweisungen.

Dazu ein Krieg im Herzen Europas, Millionen von flüchtenden Menschen, fremde Gesichter auf den Strassen, die das eigene Denken auf den Prüfstand stellen, und populistische Parolen, die dafür sorgen, dass die von der deutschen Ex-Kanzlerin Angela Merkel ausgerufene «Willkommenskultur» in ganz Europa zunehmend hinterfragt wird.

Friedliches Miteinander

Was also macht die knapp drei Millionen Einwohner zählende Stadt am Lake Ontario so viel besser als andere? Schliesslich treffen im Grossraum Toronto 250 Ethnien aufeinander, könnten 170 unterschiedliche Sprachen und Dialekte dazu führen, dass die Bewohner keine Worte füreinander finden. Der Schlüssel liegt in der Vokabel «schliesslich», die in Toronto schon vor vielen Jahren durch die Konjunktion «weil» ersetzt wurde: Chinatown, Little Portugal, Koreatown, Little Tibet, Greektown, Little Poland, Little Jamaica . . . mehr als die Hälfte von Torontos Einwohnern sind jenseits der Landesgrenzen geboren.

Die Vereinten Nationen haben Toronto offiziell zur multikulturellsten Stadt der Welt ernannt. Anders als in einem Schmelztiegel, in dem sich alles zu einer grossen homogenen Masse vermengt, haben sich die einzelnen Kulturen ihre Authentizität bewahrt – ganz ohne Ghettoisierung. Besonders eindrücklich ist das friedvolle Mit- und Nebeneinander in Kensington Market zu beobachten. Der rote Faden des Multikultiviertels zwischen Dundas Street West, College Street, Spadina Avenue und Bathurst Street: dass es keinen gibt.

Aus dem «Fika Cafe» zieht der Duft von Zimtschnecken in die Nase, ein paar Häuser weiter werden Tacos zusammengeklappt, nebenan landen Szechuan-Nudeln im Wok. Synagogen erzählen davon, dass Kensington Market Anfang des 20. Jahrhunderts mehrheitlich von jüdischen Einwanderern aus Osteuropa bewohnt wurde, bevor sie nach dem Zweiten Weltkrieg in wohlhabendere Viertel umzogen. Die viktorianischen Häuser, in denen Secondhand-Jeans den Besitzer wechseln und Tattoos auf der Haut verewigt werden, sind genauso bunt, wie es ihre Bewohner sind.

Dass die Farbe von den meisten Fassaden abblättert und Unkraut in den Vorgärten wuchert, stört hier niemanden. Ganz anders sah es allerdings aus, als Nike, Starbucks und Walmart versuchten, sich in der Nachbarschaft niederzulassen: Mit lautstarken Protesten und Tausenden von Unterschriften wehrte man die Gentrifizierungsversuche erfolgreich ab. Mainstream? Nein danke! «In Toronto wächst man mit so vielen unterschiedlichen Kulturen auf, dass man von klein auf gelernt hat, sich gegenseitig zu respektieren», erzählt Kirk Pickersgill. «Es gibt keine Zäune oder Grenzen, wir lernen von den anderen Kulturen.»

Der Modedesigner und Inhaber des Labels Greta Constantine ist das personifizierte Beispiel: Er selbst wurde in Jamaica geboren und wuchs in Toronto auf. «Hier gibt es viele Länder in einer Stadt.» Seine «Hood» ist Yorkville, ein ehemaliger Hippie-Stadtteil, der mit seinen Designerboutiquen, Galerien und Gourmetrestaurants heute das Flair von Beverly Hills hat – minus die vielen Sonnenstunden. Aber Sonne tragen die Einwohner von Toronto schliesslich im Herzen. Auch Pickersgill lacht gerne und oft, besonders als er von jenem Moment spricht, der für ihn alles änderte. Das war, als er im Februar 2021 das «Time»-Magazin zur Hand nahm. Auf dem Titelbild: die Dichterin und Menschenrechtsaktivistin Amanda Gorman – in einem kanarienvogelgelben Kleid von ihm. Auch Julia Roberts, Viola Davis und Jennifer Hudson wurden schon in seinen Abendroben abgelichtet.

Lieber unauffällig

Dabei waren die Anfänge alles andere als leicht: «Kanadier sind sehr abenteuerlustig, aber wollen nicht extravagant sein. Daher ist die Modeszene recht überschaubar.» Einer der Gründe, warum er seine Karriere in Mailand startete, lange Zeit bei Dsquared für die kanadischen Zwillinge Dan und Dean Caten arbeitete. «Sie gehören zu meinen besten Freunden.» Nach fünfzehn Jahren aber packte Pickersgill das Heimweh: «Ich vermisste Kanada. Ich wollte wieder Kanadier sein».

Sein Lieblingsort in Toronto: die «Writer’s Room Bar» im 17. Stock des Hotels Park Hyatt. Im Flur hängen Porträts der Schriftsteller, die hier schon zur Feder griffen, sich von der Aussicht inspirieren liessen. Auch ein Bild von Margaret Atwood ist darunter. «Ich habe sie mal im Supermarkt getroffen. Sie trug einen silbernen Cocoon-Mantel von mir, da musste ich sie natürlich ansprechen», erzählt Pickersgill schmunzelnd.

Vor der Glasbalustrade der Rooftop-Bar bauen sich am Ufer des Ontariosees die Wolkenkratzer der viertgrössten Stadt Nordamerikas auf, die auch «The 6ix» genannt wird. Benannt nach den sechs Bezirken, die sich 1998 zu der Stadt zusammenschlossen. Ihren Spitznamen verdankt sie einem ihrer berühmtesten Söhne: dem Rapper Drake. 2016 veröffentlichte er sein ursprünglich «Views From the 6» benanntes Album. Als Cover-Kulisse diente der CN Tower, von dem er lässig die Beine baumeln lässt. Höhenangst? Nur was für Weichlinge.

Der 556 Meter hohe Fernsehturm ist das Wahrzeichen von Toronto – die Kompassnadel der Stadt, sichtbar von Norden, Osten, Süden und Westen. Nördlich seiner Antenne ragen Kräne wie Mikadostäbe in den Himmel. Denn auch das ist Toronto: eine riesige Baustelle, überall wird gehämmert und gebohrt, sind Strassen gesperrt und staut sich der Verkehr. «Hier steht der zweitgrösste Kran der Welt», erzählt Pickersgill. «Toronto ist wie New York, ständig am Wachsen.»

Ob die Torontonians den von Leuchtreklamen beleuchteten Dundas Square deshalb liebevoll als Times Square bezeichnen? Manche Filmemacher verkaufen Downtown mit ihren spiegelnden Skyscrapers gleich ganz als den Big Apple: als die Wall Street in Serien wie «Suits» beispielsweise. Schliesslich ist Toronto die unangefochtene Wirtschaftsmetropole Kanadas – deren Motor auch die vielen Immigranten am Laufen halten. Denn was das zweitgrösste Land der Welt im Überfluss an Quadratkilometern hat, das mangelt ihm an Einwohnern.

Und so empfängt man Einwanderer generell mit Wohlwollen, schaut aber genau hin, wer ein Visum erhält. Es sind viele Akademiker und Fachkräfte unter ihnen, deren Wissen benötigt wird – eine Win-win-Situation. Die umso besser ist, weil die Integration aktiv gefördert wird, indem befristete Aufenthaltsgenehmigungen schneller als anderswo in permanente übergehen. Die positiven Nebeneffekte: eine niedrige Arbeitslosen- und Kriminalitätsrate und eine hohe Identifikationsrate.

Toronto, ein wahr gewordener Tagtraum? Vielleicht. Wenn nur das Wetter nicht wäre! «In Toronto scheint nur an etwa sechzig Tagen im Jahr die Sonne», sagt Jenny Coburn und scherzt: «Ich denke jeden Tag darüber nach, wegzuziehen.» Gemeinsam mit ihrer Ehefrau Stacey gehört der 50-Jährigen das italienische Restaurant Gia in der Dundas Street West. Es wurde als erstes pflanzenbasiertes Restaurant vom kanadischen Michelin-Guide empfohlen. «Viele Farmer aus der Umgebung beliefern uns. Im Winter ist es natürlich schwerer, aber wir tun unser Bestes, nur Zutaten zu verarbeiten, die in einem Umkreis von hundert Kilometern angebaut werden.»

Die Philosophie des «Gia» passt gut zu den Umweltbemühungen der Regierung. Bis 2050 soll Toronto klimaneutral sein, allein 2020 wurden 120 Kilometer Velowege neu gebaut, zahllose Dächer begrünt und Bienenschutzprogramme ins Leben gerufen. Immer mehr Hochhausfassaden werden mit dem Wasser des Ontariosees gekühlt, über den elektrisch betriebene Fähren schippern. Obwohl die Einwohnerzahl von Toronto stetig steigt und mehr und mehr Wohnungen gebaut werden, sinken die Emissionen – seit 2018 um 37 Prozent.

Kulinarischer Hotspot

Zurück zur Gastronomin Coburn, die im Vorort Rexdale aufgewachsen ist. Warum sie ihr Lokal im Westen der Stadt eröffnet hat? «Die Food-Szene in Toronto hat sich in den vergangenen zehn Jahren enorm entwickelt. Die Gegend rund um Ossington Avenue ist zu einem kulinarischen Hotspot geworden.» Die Ossington Avenue geht von der Queen Street West ab, in der die Tram 504 an niedrigen Häusern vorbeirattert, in denen Cafés und Boutiquen mit lokalen Labels beheimatet sind. War es einst ein heruntergekommenes Industriequartier, kürte die «Vogue» das Viertel 2014 zum zweitcoolsten der Welt.

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Auch der Kunstexperte Rui Mateus Amaral bemerkt die Transformation, die immer schneller vonstattengeht: «Ich lebe nun schon seit zweiunddreissig Jahren in Toronto. Die Stadt hat sich gewaltig verändert. Mit dem Wandel gibt es immer Dinge, die man gewinnt und verliert.» Was für den Kunstexperten gleich geblieben ist: die Seele der Stadt, die dort zutage tritt, wo die Menschen zusammenkommen: «Ich schätze die Beharrlichkeit von Einzelpersonen und Gemeinschaften, die den Charakter und die Authentizität unserer Stadtteile bewahren.» Seit Frühling 2024 ist Amaral künstlerischer Direktor des Museum of Contemporary Art Toronto Canada (Moca). Das Museum steht auf dem Land, das einst den First Nations gehörte, und zeigt vor allem Werke von kanadischen Kunstschaffenden.

«Die Zusammenarbeit mit indigenen Künstlern, Darstellern und Wissenschaftern ist ein wichtiger Bestandteil unseres Museumsprogramms.» Aber Toronto wäre nicht Toronto, wenn nicht alle Stimmen der Stadt gehört würden: «Die Kunstschaffenden in Toronto kommen nicht nur aus verschiedenen Kulturen, sondern bringen auch unterschiedliche Sensibilitäten und Geschichten in unsere Institutionen, Galerien, Parks und Strassen ein.» Und genau diese machen Toronto so einzigartig.

Dieser Artikel ist im Rahmen der «NZZaS»-Beilage «Reisen» erschienen, die von NZZ Content Creation erstellt wird.

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