Montag, Oktober 7

Er gilt als Handwerker, nicht als Visionär – Annäherungen an den Mann, der Nestlé aus dem Tief holen muss.

Wenn Nestlé einen neuen CEO sucht, ist das üblicherweise ein penibel orchestrierter, gewaltiger Prozess. Kandidatinnen und Kandidaten werden auf Long- und Shortlists gesetzt, Headhunter diskutieren mit, ein firmeneigener Nominierungsausschuss tagt. Dann, nach mehreren Runden und vielen Gesprächen, fällt der Entscheid. Er soll, ja er muss richtig sein und Erfolg garantieren. Nestlé ist schliesslich das wertvollste Unternehmen der Schweiz.

Doch dieses Mal war alles anders. Vergangene Woche wurde überraschend bekanntgegeben, dass Laurent Freixe, 62 Jahre alt, sofort als CEO von Nestlé übernimmt. Seiner Ernennung waren keine monatelangen Assessments vorausgegangen, im Gegenteil: Als sich abzeichnete, dass der bisherige Mann an der Spitze, Mark Schneider, gehen muss, brauchte es einen Nachfolger. Und zwar schnell.

Manche Beobachter bezeichnen Laurent Freixe deshalb als Verlegenheitslösung, als Notnagel. Andere wiederum sagen, er sei die logische und beste Wahl. Die Wahrheit liegt wahrscheinlich irgendwo dazwischen.

Fest steht jedenfalls, dass über den neuen Chef des Lebensmittelkonzerns wenig bekannt ist. Doch im Gespräch mit Laurent Freixe selbst und mit Personen, die ihn gut kennen, ergibt sich ein einheitliches Bild. Es ist das Bild eines stillen Schaffers, eines «Mannes mit Nestlé-DNA», der sich mit Beständigkeit und Loyalität nach oben gearbeitet hat.

Doch hat Freixe auch das Zeug, das Unternehmen Nestlé, das aufgrund seiner Grösse und Schwerfälligkeit gerne als «Supertanker» beschrieben wird, wieder auf Kurs zu bringen? Manche Beobachter äussern Zweifel.

Ein Trainer als Inspiration

Als Laurent Freixe im Jahr 1986 im Alter von 24 zu Nestlé kam, hatte er bereits eine andere Karriere hinter sich. Zehn Jahre zuvor hatte er in seiner Heimat Frankreich die Jugendmeisterschaft im Handball gewonnen. Und es war diese Erfahrung, die Freixe eine wichtige Lektion für das spätere Leben lehren sollte.

Vor einigen Jahren, Freixe war längst bei Nestlé, sprach er in einem Interview über seinen damaligen Trainer. «Er hat uns angespornt, Dinge zu erreichen, die wir nicht glaubten, erreichen zu können», sagte Freixe. Das habe der Mannschaft Eindruck gemacht, und seither glaube er an die «Power des Teams».

Freixe studierte Betriebswirtschaftslehre an der EDHEC Business School. Die private Hochschule mit Sitz in Lille gilt als Schmiede vieler Topkader aus Frankreich: Der frühere Louis-Vuitton-Chef Michael Burke besitzt einen Abschluss von dort, ebenso Delphine Arnault, die Tochter des LVMH-Haupteigentümers Bernard Arnault und heutige Chefin von Christian Dior. Freixe graduierte im Jahr 1985. Dann begann seine zweite Karriere.

Bei Nestlé stieg Freixe im Marketing- und Verkaufsbereich ein. Später übernahm er die Ernährungssparte in Frankreich und leitete die Märkte in Ungarn sowie in Spanien und Portugal. Im Jahr 2008 – es hatte gerade ein neuer CEO namens Paul Bulcke begonnen – wurde Freixe zum Europa-Chef ernannt und stieg in die Geschäftsleitung auf. Der vorläufige Höhepunkt seiner Karriere erfolgte wenige Jahre später mit dem Transfer über den Atlantik. Als Leiter Amerikas verantwortete Freixe die grösste Region in der damaligen Organisation von Nestlé.

Personen, die mit Freixe zusammengearbeitet haben, sprechen von ihm als «richtigem» Nestlé-Mann. Einem also, der ein Gespür für die unterschiedlichen Märkte habe und die vielen Marken des Konzerns kenne.

Gegen einen Externen verloren

Als Nestlé im Jahr 2016 einen Nachfolger für Paul Bulcke suchte, gehörte Laurent Freixe zu den letzten vier Kandidaten. Dreissig Jahre war er damals bereits im Unternehmen, doch das Rennen machte ein Externer. Der Deutsche Mark Schneider, von Journalisten auch schon als «bester Manager seiner Generation» bezeichnet, konnte die Konzernspitze mehr überzeugen.

Anstatt enttäuscht zu kündigen, blieb Freixe und übernahm im Jahr 2022 die neu geschaffene Region Lateinamerika. Einige Beobachter sahen darin eine Herabstufung von Freixe – statt ganz Amerika leitete er nur noch halb Amerika –, andere beurteilen es heute eher positiv. «Laurent konnte damit beweisen, wie loyal er ist», sagt eine Person aus seinem Umfeld.

Diese Treue, die Kontinuität, dazu eine hohe Sachkompetenz: Es sind Werte, die am Hauptsitz von Nestlé in Vevey hochgehalten werden, gegenwärtig vielleicht mehr denn je. Denn Mark Schneider, den man vor wenigen Jahren noch Freixe vorgezogen hatte, war eben kein «Nestlé-Mann». Schneider kam von aussen und kannte die Lebensmittelbranche kaum.

Freixe steht deshalb auch für den Kontrast zu Schneider. Er repräsentiert die neue, alte Nestlé-Welt, deren offizielles Motto jetzt lautet: «Forward to basics» – frei übersetzt «vorwärts zu den Wurzeln».

Nestlé muss wieder wachsen

Für diese Aufgabe sei Freixe die natürliche Wahl, sagt ein Insider. Aufgrund seines Werdegangs geniesst er bei den Nestlé-Angestellten «street credibility». Es heisst, er sei ein beliebter Chef.

Seine Hauptaufgabe wird es sein, Marktanteile zurückzugewinnen. So hat es der Verwaltungsrat um Präsident Paul Bulcke vorgegeben. Zwar ist es nicht so, dass der Konzern jüngst von Konkurrenten links und rechts überholt worden wäre. Aber für interne Unruhe hat gesorgt, dass Nestlé etwa im wichtigen Markt USA bei zahlreichen Produkten an Terrain verloren hat. Vor allem die Eigenmarken der Supermarktketten machen Nestlé zu schaffen: Die inflationsgeplagten Konsumenten greifen nun häufiger zu diesen Waren, die günstiger als die Markenartikel von Nestlé sind.

Präsident Paul Bulcke sprach vergangene Woche in Kriegsmetaphern, um die Herausforderungen zu beschreiben. Es gelte nun, die «Truppen zu versammeln und eine Einheit zu bilden». Diese Motivationsaufgabe traute Bulcke dem Ex-CEO Schneider nicht mehr zu. Freixe habe hingegen «Erfahrung im Schützengraben».

Doch passt das zum einstigen Handballer Freixe, der im Gespräch lieber auf Sport- statt auf Kriegsbilder zurückgreift? Er sagt zwar, dass auch er «immer gewinnen» wolle. Doch grundsätzlich spricht Freixe zurückhaltender.

Am lebendigsten wirkt er dann, wenn er darlegen kann, wie man Nestlé-Produkte am besten an die Konsumentin und den Konsumenten bringt. Das ist das Handwerk, das er beherrscht: wie man Produkte aufbaut, Markenversprechen einlöst, die richtigen Preise setzt, die Ware in den Läden sichtbar macht, das Marketing schlagkräftig ausrichtet.

In seinen Augen braucht es dafür ständige, beharrliche Arbeit an der Basis. Kein Wunder, bezeichnen viele Beobachter Freixe als «stillen Schaffer».

Was kommt nach Freixe?

Dem Franzosen ist zuzutrauen, dass er an der Nestlé-Spitze wieder Wachstumsimpulse setzt. Dennoch bestehen Zweifel, ob das reicht. Die grosse Frage lautet: Welche Zukunft hat ein Nahrungsmittelkonzern wie Nestlé in zehn bis zwanzig Jahren? Womit kann das Unternehmen dann erfolgreich sein?

Mark Schneider war es gelungen, eine Vorstellung davon zu vermitteln. Er setzte auf Klassiker wie Kaffee und Tierfutter, baute daneben aber auch das Angebot mit Gesundheitsprodukten aus. Das Food-Portfolio gestaltete er moderner, gesünder und nachhaltiger. Der Konzern mag dabei nicht schnell genug vorangekommen sein, wie Kritiker bemängeln, aber die Richtung war klar.

Freixe dagegen ist kein Visionär, sondern eher ein Handwerker. Er ist auch keine schillernde Führungsfigur, wie es die alte Chefgarde um Helmut Maucher, Peter Brabeck-Letmathe oder Paul Bulcke war. Und schliesslich spielt auch Freixes Alter eine Rolle. Mit 62 bleiben dem Franzosen wohl nur wenige Jahre, um «die Nadel zu bewegen», wie sie es bei Nestlé gerne nennen. Was danach kommt, erscheint offener denn je.

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