Samstag, September 28

Hryhir Tjutjunnyk ist ein literarischer Aussenseiter, der sich mit seiner impressionistischen Schreibweise dem Sowjetkanon verweigert.

Hryhir Tjutjunnyk war nicht für das grausame Leben in der Sowjetukraine geschaffen. Die von Stalin künstlich geschaffene Hungersnot, den Holodomor 1932/33, überlebte er als Zweijähriger. Als er sechs Jahre alt war, wurde sein Vater auf dem Höhepunkt des Stalin-Terrors verhaftet und erschossen. Sein ganzes Leben erinnerte sich Tjutjunnyk daran, wie er dem Gefängnistransporter auf der Dorfstrasse nachgerannt war.

Einen Grossteil seiner Kindheit verbrachte er bei seinem Onkel und seiner Tante, getrennt von der Mutter. Er durchlebte eine gewöhnliche sowjetische Biografie: Er diente in der Armee, machte eine Schlosserlehre, arbeitete in einer Kolchose und in einem Bergwerk. Ein Literaturstudium in Charkiw bestätigte ihn in seinem Entschluss, Schriftsteller zu werden. Er debütierte 1962 mit einer russischsprachigen Erzählung. Allerdings wurde ihm schon bald klar, dass er zu seiner Muttersprache zurückkehren müsse. In einem Brief bekannte er: «Wie kann man über die Ukrainer schreiben, wenn nicht in ihrer Sprache? Wie drückt man ihre Seele aus, wenn nicht in ihrer Sprache?»

Exquisite Prosa

Seine Prosawerke erregten bald die Aufmerksamkeit der Literaturkritik und wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Allerdings blieb Tjutjunnyk aufgrund seiner impressionistischen Schreibweise immer ein Aussenseiter im offiziellen Literaturbetrieb, in dem nach wie vor der ästhetische Imperativ des sozialistischen Realismus galt. 1980 setzte Tjutjunnyk, mittlerweile Vater zweier Teenager, seinem Leben selber ein Ende.

Tjutjunnyks exquisite Prosa ist nun erstmals in der sorgfältigen Übersetzung von Beatrix Kersten auf Deutsch greifbar. Dreizehn Prosaskizzen zeigen kurze Szenen aus dem Leben unwahrscheinlicher Helden in der Ostukraine. Das Mütterchen Marfa hat drei Ehemänner überlebt, die in den beiden Weltkriegen umgekommen sind. Der Fischer Danylo lebt im Sommer in einer kleinen Hütte am Fluss und kennt alle Pflanzen, mit denen er eine Suppe kochen kann. Der verträumte Junge Tymocha weiss nicht recht, wie er mit der hübschen Palaschka anbändeln soll. Die Hochzeit der Bauerntochter Katrja mit einem Wirtschaftsingenieur führt im Dorf zu gesellschaftlichen Spannungen. Mychailo wird von zwei Mädchen geliebt. Er wird verhaftet und schreibt sterbend aus dem Gulag an seine Frau, sie solle ihre unglückliche Mitbuhlerin trösten.

In der Schwebe

Es gelingt Tjutjunnyk, das individuelle Leben, die grosse Geschichte und die idyllische Natur in der Ostukraine auf wenigen Seiten einzufangen. Dabei vermeidet er effekthascherische Pointen. Ein Junge, der auf dem noch dünnen Eis auf dem Fluss von der Schule nach Hause geht, bricht nicht ein. Die Liebe eines Paares bleibt in der Schwebe. Traumatische Biografien verschwinden hinter der ewigen Gegenwart des einfachen Lebens.

Tjutjunnyk wählt für seine Erzählungen jeweils eine besondere Perspektive. Er bricht das harte, tragische, aber auch liebevolle Miteinander der Menschen im Donbass durch das Prisma eines subjektiven Bewusstseins, das selbst nicht alles versteht, was ringsum geschieht. Umso deutlicher ersteht vor dem Auge der Leser eine Welt, von der Tjutjunnyk wusste, dass er sie beschreiben musste. Er war aber ihren erbarmungslosen Anforderungen nicht gewachsen.

Hryhir Tjutjunnyk: Drei Kuckucke und eine Verbeugung. Erzählungen. Ausgewählt und aus dem Ukrainischen übersetzt von Beatrix Kersten. Verlag Weissbooks, Berlin 2024. 222 S., Fr. 36.90.

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