Montag, November 25

Jahrhundertelang ging man davon aus, dass die Region vor der europäischen Eroberung unbesiedelt gewesen ist. Nun wandelt sich das Bild immer mehr.

Als der spanische Eroberer Francisco de Orellana im Jahr 1542 von seiner Expedition den Amazonas aufwärts zurückkehrte, erzählte er nicht nur, er habe dort gegen Frauen gekämpft – offenbar Amazonen, eigentlich Figuren aus der griechischen Mythologie, nach denen der Fluss daraufhin benannt wurde. Orellana berichtete auch, er habe an den Ufern des gewaltigen Stroms grosse Städte gesehen, deren Bewohner edle Keramikgefässe genutzt hätten.

Frauen, die in den Krieg ziehen, und urbane Siedlungen im Regenwald: Wer sollte das glauben? Man tat den Mann als Märchenerzähler ab – und das mehr als 400 Jahre lang. Erst in den 1980er Jahren fanden Archäologen erstmals Siedlungsspuren am Amazonas, die älter waren als die europäische Landnahme ab dem frühen 16. Jahrhundert.

Und nun haben die Fachleute die über zwei Jahrzehnte in Ecuador dokumentierten Spuren zusammengesetzt und mithilfe neuer Technik festgestellt: Dort gab es sogar bereits vor mehr als 2000 Jahren ein ganzes System von Städten, umgeben von Feldern, verbunden mit Strassen. Es sind die ältesten bisher bekannten Siedlungsspuren aus der Region.

Ausgrabung und Laserscanner führen zur Entdeckung am Fluss Upano

Stéphen Rostain ist wissenschaftlicher Direktor der Forschungseinheit für die Archäologie der beiden Amerika an der Universität Panthéon-Sorbonne in Paris, er hat das Forschungsprojekt am Fluss Upano geleitet. Dessen Ergebnisse sind jetzt in der Fachzeitschrift «Science» veröffentlicht worden.

«Normalerweise machen Archäologen zuerst eine sogenannte Fernerkundung, zum Beispiel mit Luftbildern, und dann gehen sie los und prüfen mit Testgrabungen, ob da wirklich etwas unter der Erde ist», sagt Rostain am Telefon. «Bei mir war es umgekehrt. Ich hatte schon sieben Jahre lang im Upano-Tal Ausgrabungen gemacht, als ich 2020 die Luftaufnahmen bekam. So konnte ich dann viele der Strukturen, die dort zu sehen waren, schon verstehen.»

Die Luftaufnahmen waren aber nicht einfach Fotografien, sondern mit einer Technik namens Lidar gemacht. Lidar steht für «light detection and ranging», es handelt sich um eine dem Radar verwandte Technik des dreidimensionalen Laserscannings. Der Scanner ist dabei an einen Helikopter oder ein anderes Fluggerät montiert. In den vergangenen Jahren hat das der Archäologie ungeahnte Möglichkeiten eröffnet: Auf Lidar-Bildern lässt sich die Vegetation einfach wegrechnen, und zuvor unter Bäumen versteckte Strukturen treten plötzlich klar hervor.

In den Städten im Upano-Tal standen die Häuser auf Plattformen aus Erde

Rostain und seine Kollegen fokussierten sich auf ein 300 Quadratkilometer grosses Gebiet zwischen den östlichen Ausläufern der Anden und dem Amazonas. Sie fanden auf den Flussterrassen 15 Siedlungen aus der Zeit der sogenannten Upano-Kultur, 5 grosse, 10 kleinere, bestehend aus insgesamt mehr als 6000 aus Erde aufgeschütteten Plattformen.

Diese sind meist rechteckig, etwa 10 mal 20 Meter lang und 2 bis 3 Meter hoch. Typischerweise sind zwischen drei und sechs von ihnen um einen Platz herum gruppiert, auf dem oft noch eine zentrale Plattform steht. Die grösseren dieser Aufschüttungen dienten wahrscheinlich öffentlich-zeremoniellen Funktionen; auf den kleinen fanden sich Reste von Wohnhäusern aus Holz.

Die Plattformen hätten einen praktischen Nutzen gehabt, sagt Rostain. «Der Boden ist sehr feucht und matschig, und da oben war einfach ein trockener Ort zum Leben.» Auch die indigenen Gruppen, die heute in der Region leben, errichten laut dem Archäologen ihre Häuser auf natürlichen Erhebungen im Gelände.

Der grösste Komplex, Kilamope, ist 10 Hektaren gross und entlang einer Hauptachse angelegt, eine der Plattformen dort misst 40 mal 140 Meter. Bei den Ausgrabungen wurden neben Resten von Häusern auch Mahlsteine und grosse Tongefässe gefunden.

Die Analyse von Rückständen in den Töpfen ergab: Die Menschen assen Mais, Bohnen, Süsskartoffeln und Maniok, eine einheimische stärkehaltige Knolle – alles heute noch Grundnahrungsmittel in Mittel- und Südamerika.

Und noch eine Verbindung zur heutigen Zeit gibt es: In einem der Gefässe könnte sich, das zeigen die erhaltenen Stärkemoleküle, sogar schon eine Version von Chicha befunden haben, dem auch heute noch in der Region gebrauten Süssbier.

Entwässerte Felder und gerade Strassen im Regenwald

Es gebe, schreiben die Autoren, fast keinen Flecken im Tal, der nicht genutzt worden sei. Zwischen den Plattformen fand Landwirtschaft statt, auf Hunderten Hektaren eines ununterbrochenen Feldsystems. Die Felder waren auf allen Seiten umrandet von Gräben und Entwässerungskanälen. Es regnet hier schliesslich jeden Tag.

Die Gräben erscheinen auf den Lidar-Bildern als gerade Linien – aber nicht nur sie: Die Menschen bauten vor mehr als 2000 Jahren auch Kommunikationswege von einer Siedlung zur anderen, U-förmig ins Gelände eingetiefte Strassen, zwei bis drei Meter tief, der eigentliche Gehweg bis zu 5 Meter breit. Die längste ist mindestens 25 Kilometer lang. Und diese Strassen sollten offenbar trotz den Unebenheiten im Gelände über Schluchten und Hügel so gerade wie möglich sein. Das legt nahe, dass sie vermutlich auch eine symbolische und rituelle Funktion hatten.

Irgendwann zwischen 300 und 600 n. Chr. verschwand die Upano-Kultur; wann genau, wird sich schon bald sagen lassen: «Wir haben etwa siebzig C14-Daten aus dem Tal», erklärt Rostain, «und sie schwanken.» Ein Statistiker sei gerade dabei, das zu klären: «Ich warte ungeduldig auf das Ergebnis.»

Ebenso unklar wie das Wann des Endes ist das Warum. Bei den Ausgrabungen fand sich eine schwarze Schicht von Asche. Sie stammt vom die Region beherrschenden Vulkan Sangay, aber nach einem riesigen Ausbruch sieht es – anders, als früher vermutet wurde – nicht aus. Es gab wohl Bedrohungen und Konflikte, darauf lassen Verteidigungsgräben schliessen, aber auch sie waren nicht der Grund für das Verschwinden.

«Gesellschaften enden einfach, das gibt es überall auf der Welt», sagt Rostain, und es klingt wie ein Schulterzucken. Vielleicht hätten auch klimatische Veränderungen eine Rolle gespielt. Die Menschen, die am Upano Städte errichtet hatten, wanderten jedenfalls offenbar nach Süden ins heutige Peru, das zeigen Keramikfunde von dort.

Upano, Llanos de Moxos, Acre, Xingu: frühe Städte im Regenwald

Rostains Entdeckung steht längst nicht mehr allein. In den vergangenen Jahren haben Archäologen in allen Gebieten Amazoniens komplexe Siedlungen dokumentiert, die grössten sind das 2022 entdeckte Llanos de Moxos in Bolivien und Acre und Xingu in Brasilien. «In Grösse und Infrastruktur sind sie mit Städten geringer Dichte vergleichbar», erklärt Carla Jaimes Betancourt, Professorin für die Archäologie Amazoniens an der Universität Bonn in Deutschland, per E-Mail.

«Sie verfügten über eine zeremonielle Architektur für rituelle Praktiken sowie über grosse häusliche Bereiche, in denen die Bewohner ihren täglichen Aufgaben nachgingen», schreibt sie: Töpferhandwerk, Lederverarbeitung, Korbflechterei, Federkunst und Holzbearbeitung. «Zu diesen städtischen Zentren gehörten auch Friedhöfe, Gärten, Obstplantagen und landwirtschaftliche Flächen.»

Dass diese Erkenntnisse auch in Europa so viel Aufmerksamkeit erhalten, liegt daran, dass sie in Kontrast stehen zu dem im 19. und im 20. Jahrhundert von Ethnologen etablierten Bild vom Land am Amazonas: kleine Gruppen in kurzlebigen Siedlungen im dichten Dschungel, den sie allenfalls für kleine Felder zum Anbau einiger Pflanzen roden.

Diese Gruppen und Siedlungen waren aber nur deshalb so klein, weil die von den Europäern eingeschleppten Krankheiten neunzig Prozent der Bevölkerung der Amazonasregion umgebracht hatten. Für grosse Siedlungen gab es einfach nicht mehr genug Menschen. Der Urbanismus im Dschungel war verschwunden.

«Ich glaube, dass es ein sehr exotisiertes Bild von den indigenen Völkern des Amazonasgebiets gibt, ein Produkt der Unwissenheit», sagt Jaimes Betancourt. Und «dass diese Städte während der Kolonialzeit nicht existierten und die Bevölkerung die Folgen von Kolonisierung, Pandemien und Sklaverei nicht überleben konnte».

Der Regenwald ist seit mindestens 4000 Jahren keine unberührte Wildnis mehr

Doch auch dort, wo es keine grösseren Siedlungen gab, war der Regenwald keine unberührte Wildnis. Mindestens seit die Menschen hier vor etwa 4000 Jahren zu Ackerbauern wurden, haben sie wie in jeder anderen Region auch die Zusammensetzung der Arten in vielen Ökosystemen verändert, haben Pflanzen, Tiere, den Wald und die Landschaft domestiziert. Es ist «ein einzigartiges biokulturelles Erbe», so nennt es Jaimes Betancourt.

Für sie zeigen die Siedlungen im Upano-Tal, «wie die Gesellschaften der Vergangenheit, insbesondere im Amazonasgebiet, ein unglaubliches Wissen über ihre Umwelt hatten und wie sie durch den Bau von Erdwerken Umweltprobleme wie Überschwemmungen, Dürren und andere überwinden konnten».

Auch heute noch hätten die Indigenen in der Region ein bemerkenswertes Wissen und Verständnis hinsichtlich der Umwelt, sagt die Wissenschafterin. Aber, so erzählt ihr Pariser Kollege Stéphen Rostain, für die Archäologie hätten sich die Menschen im Upano-Tal kaum interessiert.

Ihr Verhältnis zu gebauten Relikten der Vergangenheit ist ein ganz anderes als in Europa. «Sie haben kein Konzept von Ruinen», sagt Rostain. «Ihnen sind Bäume und Flüsse wichtig, denn die werden in ihrem Glauben von Geistern bewohnt.» So dürften in Amazonien selbst die neuen Erkenntnisse viel weniger Aufmerksamkeit erregen als in der internationalen Presse.

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