Mittwoch, November 27

Die US-Börsen haben ein ausgezeichnetes erstes Halbjahr hinter sich, besonders Tech-Aktien. Neue Impulse zum weiteren Kursverlauf werden von den Abschlüssen zum zweiten Quartal ausgehen. Auf diese Trends sollten Investoren bei der anstehenden Flut an Unternehmensnachrichten achten.

Die amerikanischen Börsen tendieren zum Auftakt des zweiten Semesters freundlich. Der S&P 500 ist am Dienstag 0,6% avanciert, der Nasdaq 100 mit den grössten Technologiewerten hat 1% gutgemacht. Beide Indizes bewegen sich auf Rekordniveau.

Weniger vorteilhaft ist die Entwicklung am Bondmarkt. Die Rendite auf zehnjährige US-Staatsanleihen ist in den vergangenen Tagen deutlich gestiegen.

Weil sich die kurzfristigen Renditen dagegen nur wenig verändert haben, ist die Zinskurve steiler geworden; ein Muster, das auch als «Bear Steepener» bezeichnet wird.

Nicht wenige Beobachter stellen die Entwicklung am Bondmarkt in Zusammenhang mit dem Wahlkampf in den USA. Seit der Präsidentschaftsdebatte vom vergangenen Donnerstag nehmen Donald Trumps Chancen auf eine Rückkehr ins Weisse Haus zu. Der Anstieg der langfristigen Zinsen signalisiere demnach, dass Investoren angesichts der wachsenden Wahrscheinlichkeit von Trumps Wahlsieg mit einem höheren US-Budgetdefizit, mehr Staatsschulden und folglich einem grösseren Emissionsvolumen im Markt für Treasuries rechnen.

Das klingt plausibel, ist aber möglicherweise nur ein Teil der Erklärung. Marc Chandler, Chefstratege beim Devisenbroker Bannockburn Global Forex, weist darauf hin, dass die langfristigen Zinsen zuletzt in diversen anderen Ländern ebenfalls gestiegen sind, unter anderem auch in Kanada und Australien. Dass Joe Biden ein alter Mann ist, sei längst bekannt. Ebenso, dass keiner der beiden Kandidaten einen Plan zur Konsolidierung der Staatsausgaben habe. Zudem habe Trump das Rennen um das Weisse Haus schon vor der Debatte angeführt, nun liege er einfach etwas weiter vorne (mehr zu den US-Wahlen weiter unten).

Weitere mögliche Turbulenzen in Washington ausgeklammert, ist das Hauptereignis für die Finanzmärkte diese Woche der monatliche Bericht zum amerikanischen Arbeitsmarkt. Ökonomen rechnen damit, dass die US-Wirtschaft im Juni 190’000 Stellen geschaffen hat, nach 272’000 im Mai. Die Arbeitslosenquote soll unverändert auf 4% verharren.

Die grosse Story an den US-Börsen war im ersten Halbjahr der Boom im Bereich künstliche Intelligenz und die eindrücklichen Kursgewinne von Nvidia und anderen KI-Profiteuren aus der IT-Branche. Wie folgende Grafik von «Bloomberg News» illustriert, kommt der Sektor derzeit für knapp 35% der Gewichtung im S&P 500 auf. Er ist damit fast so dominant wie auf dem Höhepunkt der Internetblase Anfang 2000.

Eine Analyse von Goldman Sachs lässt deshalb aufhorchen. Demnach haben Hedgefonds in den vergangenen Wochen in grossem Stil Tech-Aktien verkauft. Es handelt sich um die grösste Verkaufswelle seit 2017, als die Investmentbank mit der Erhebung der Daten begann. Abgestossen wurden vor allem Aktien von Halbleiterkonzernen und Herstellern von Equipment zur Chipproduktion, gefolgt von Software- und Internetwerten.

Hat das «Smart Money» Recht? Die Antwort auf diese Frage werden die in den nächsten Wochen eintreffenden Abschlüsse zum zweiten Quartal geben. «The Pulse» in der heutigen Ausgabe deshalb einen Ausblick auf die Berichtssaison, mit speziellem Fokus auf den Tech-Sektor.

Gewinnwachstum verlangsamt sich

Bald geht es los. Ende nächster Woche lancieren die Finanzkolosse JPMorgan Chase, Citigroup und Wells Fargo die Berichtssaison zum zweiten Quartal. Mit dem niederländischen Halbleiterausrüster ASML, der taiwanischen Chipschmiede TSMC sowie Netflix, IBM und Tesla folgen Mitte Juli die ersten relevanten Konzerne aus dem Tech-Sektor. Die Superschwergewichte Microsoft, Apple, Alphabet, Amazon und Meta Platforms legen die Zahlen gegen Ende Monat vor.

Der Konsens ist optimistisch. Gemäss dem Datendienst LSEG erwarten Analysten, dass die Konzerne im S&P 500 den Gewinn in der Berichtsperiode gegenüber dem Vorjahr um knapp 11% steigern konnten. Für die zweite Jahreshälfte rechnen sie mit einer anhaltend positiven Entwicklung, wobei sich das Gewinnwachstum gegen Jahresende auf rund 15% beschleunigen soll.

Für den Tech-Sektor sieht es etwas anders aus. Der Konsens prognostiziert für das zweite Quartal eine Gewinnsteigerung von rund 17%, nachdem es im ersten Quartal 27% waren. Im zweiten Halbjahr soll sich die Kadenz bei 15 bis 16% einpendeln, was weiterhin über dem Vergleichswert für den S&P 500 liegen würde.

«Mega-Cap-Wachstum und Tech führen das Feld an, doch das Tempo verlangsamt sich merklich», meinen dazu die Marktstrategen der Deutschen Bank. Für das robuste Gewinnwachstum der vergangenen zwei Quartale seien massgeblich die vorteilhafte Vergleichsbasis nach der Abkühlung von 2022 sowie der Schub durch künstliche Intelligenz verantwortlich gewesen. Nun schwäche sich das Wachstum ab, da der Basiseffekt auslaufe und die KI-getriebene Nachfrage nach dem ausserordentlichen Schub der vergangenen eineinhalb Jahre nachlasse.

Wie immer bei den Abschlüssen wird sich die Aufmerksamkeit in erster Linie darauf richten, was die Unternehmen zum Ausblick sagen. Seit dem Frühjahr 2023 haben die Analysten in fast jeder Berichtssaison ihre Gewinnschätzungen deutlich angehoben. Lediglich bei den Zahlen für das dritte Quartal 2023 war die Reaktion zunächst eher verhalten.

Für die knapp siebzig IT-Konzerne im S&P 500 ist der Trend ähnlich, aber wegen des stärkeren Gewinnwachstums steiler. Die Abschlüsse ballen sich zudem weniger im Monat nach dem Ende eines Kalenderquartals, weil das Geschäftsjahr vieler Tech-Unternehmen von der Norm abweicht. Die Schätzungen für den Sektor werden daher eher fortwährend und weniger schubweise von den Analysten angepasst.

Abhängig vom KI-Boom

Der S&P 500 ist seit Januar 15% avanciert, der Nasdaq 100 knapp 19%. Nach dieser erfreulichen Performance im ersten Halbjahr kommt den Aussichten auf das künftige Gewinnwachstum umso mehr Bedeutung zu.

«2022 bis 2023 wurde der Markt durch makroökonomische Faktoren bestimmt, wobei die Expansion der Bewertungen für den Hauptteil der Kursgewinne während dieser zweijährigen Periode verantwortlich war», so das Research-Team von Bank of America. Inzwischen werde der Markt jedoch zunehmend stärker vom Gewinnwachstum getrieben.

«Seit März 2024 tragen die Gewinne mehr zum Kursverlauf des S&P 500 bei als die Bewertungen», halten die Strategen von Bank of America fest. «Die nächste Woche beginnende Berichtssaison zum zweiten Quartal wird deshalb für die weitere Entwicklung an der Börse entscheidend sein.»

Für Tech-Konzerne bleibt künstliche Intelligenz der wichtigste Faktor in dieser Hinsicht. Die Anzeichen für eine Abschwächung der US-Wirtschaft mehren sich. Das Echtzeit-Konjunkturbarometer der Fed-Distriktnotenbank Atlanta zeigt für das zweite Quartal nur noch ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von 1,7% an, nachdem es Mitte Mai noch bei über 4 % gelegen hatte. Gemäss Citi Surprise Index bleiben die meisten Wirtschaftsdaten seit zwei Monaten konstant hinter den Erwartungen zurück.

Angesichts der durchwachsenen konjunkturellen Lage bleiben die IT-Unternehmen für einen wesentlichen Teil ihres Gewinnwachstums auf den KI-Boom angewiesen. Wie die ersten Unternehmensabschlüsse im Vorfeld der Berichtssaison deutlich gemacht haben, gibt es kaum andere bedeutende Wachstumstreiber für die Branche.

Ein typisches Beispiel ist das Ergebnis, das Micron Technology vergangene Woche vorgelegt hat. Der grösste US-Hersteller von Speicherchips gehört dieses Jahr mit einem Plus von 55% zu den besten Aktien im S&P 500. Der PC-Markt soll sich im zweiten Halbjahr weiter erholen und 2024 insgesamt im niedrigen einstelligen Prozentbereich wachsen. Der Smartphone-Markt soll im niedrigen bis mittleren einstelligen Prozentbereich wachsen.

Das ist zwar nicht schlecht. Das sequenzielle Wachstum gegenüber dem Vorquartal von 17% auf 6,8 Mrd. $ sei aber vorab «der robusten KI-Nachfrage zu verdanken», sagte CEO Sanjay Mehrotra. Doch wegen des Hypes um grosse Sprachmodelle wie ChatGPT ist der Druck an der Börse mittlerweile so gross, dass es schon als Enttäuschung gilt, wenn die Erwartungen lediglich erfüllt werden.

Bei Micron war dies bei der Prognose der Fall. Obwohl der Konzern für das laufende Quartal wie von Analysten erwartet eine Umsatzverbesserung von 90% auf 7,6 Mrd. $ in Aussicht stellte, fiel der Aktienkurs nach Veröffentlichung der Ergebnisse um 7%.

Ähnliches gilt für den gesamten Technologiesektor. Von Hardwareherstellern wie Dell Technologies, HP und Hewlett Packard Enterprise über Softwareanbieter wie Salesforce, Oracle und Adobe bis hin zu Chipkonzernen wie Broadcom und Micron profitiert die Branche vom hohen Investitionsbedarf im Bereich KI. Das übrige Geschäft hingegen läuft weiterhin zumeist mässig bis schleppend.

Fokus auf Kapitalausgaben

Vor diesem Hintergrund ist klar, dass das Thema künstliche Intelligenz auch die kommende Berichtssaison im Tech-Sektor dominieren wird. Wie immer sind heftige Kursausschläge einzelner Aktien nach oben und unten so gut wie sicher.

Grundsätzlich spiegeln die Bewertungen in vielen Fällen bereits ein erhebliches Mass an Wachstumsfantasie. Dies gilt insbesondere für den Chipsektor. Der PHLX Semiconductor Index ist seit Jahresbeginn gut 30% vorgeprescht, nachdem er 2023 bereits über 60% gewonnen hatte.

Auffallend ist, dass diverse Halbleiterkonzerne, die an der Börse als KI-Gewinner gehandelt werden, seit rund zwei Wochen dem Markt hinterherhinken. Nvidia notiert rund 10% unter dem Höchststand vom 18. Juni. Bei Micron, Qualcomm und Broadcom liegt der Verlust im gleichen Zeitraum zwischen 8 und 14%.

Der wohl beste Indikator für die weitere Entwicklung des KI-Booms sind die Investitionen in die Rechenzentren von Microsoft, Alphabet, Amazon, Meta Platforms und anderen Tech-Giganten. Ihre Investitionen bilden derzeit die Grundlage für fast das gesamte Wachstum im Tech-Sektor. Insgesamt werden die Kapitalausgaben in diesem Jahr auf über 200 Mrd. $ geschätzt.

Die Aussagen der Branchenleader zu ihrem künftigen Investitionsvolumen sind damit einer der wichtigsten Punkte, auf die Anleger diese Berichtssaison achten sollten. Hinweise auf eine Drosselung könnten Probleme bedeuten.


Deep Diving

An dieser Stelle präsentieren wir wie immer einige Links, die einen vertieften Einblick in ein aktuelles Thema geben:

  • Ist der Hype um künstliche Intelligenz gerechtfertigt oder masslos übertrieben? In der Investmentwelt gehen die Meinungen dazu weit auseinander. Ein differenziertes Bild gibt Philippe Laffont, Gründer und Portfoliomanager der Anlageboutique Coatue Management. In diesem Interview äussert sich der renommierte Tech-Investor zu KI-Darlings wie Nvidia und sagt, wo er im heutigen Marktumfeld Chancen sieht.
  • Disney hat mit «Inside Out 2» einen Volltreffer gelandet. Der Zeichentrickfilm hat an den Kinokassen weltweit bereits über 1 Mrd. $ eingespielt. Der letzte Hit mit einem solchen Erfolg war «Barbie» von Warner Bros. Discovery. Generell läuft es der Branche jedoch mehr schlecht als recht. Matthew Ball, vormaliger Chefstratege der Filmsparte von Amazon, beleuchtet in seinem neuen Essay die wichtigsten Trends in hundert Jahren Kinogeschichte.
  • Dazu passt der folgende Beitrag. Die Google-Tochter YouTube verzeichnet im amerikanischen TV-Markt inzwischen einen Anteil von annähernd 10%. Zum Vergleich: Netflix kommt auf knapp 8%. Das Newsportal des Börsensenders «CNBC» befasst sich in diesem Hintergrundbericht mit dem Vormarsch von YouTube und den strategischen Herausforderungen traditioneller TV-Netzwerke angesichts der zunehmenden Konkurrenz.

Und zum Schluss noch dies: You Bet!

Es ist das Top-Thema in der amerikanischen Politik: Zieht Joe Biden seine Kampagne zur Wiederwahl trotz der desaströsen Performance bei der Präsidentschaftsdebatte durch? Oder überlässt er das Feld für die Kandidatur der Demokraten jemand anderem?

An politischen Börsen wie PredictIt wird heftig spekuliert. Zum aktuellen Stand indizieren die Wettquoten eine Chance von nur noch rund 55%, dass Biden bei den Wahlen am 5. November erneut antreten wird. Im Vorfeld der Debatte bewegte sich die Wahrscheinlichkeit zwischen 80 bis 90%, was bereits gewisse Zweifel an seinem Durchhaltevermögen signalisiert hatte.

Bemerkenswert ist ein weiterer Trend. Während Bidens Chancen auf eine Wiederwahl gemäss den Wettbörsen in den vergangenen sieben Tagen von knapp 50 auf weniger als 25% implodiert sind, haben sich die Quoten für eine Rückkehr von Donald Trump ins Weisse Haus deutlich weniger bewegt. Aktuell beziffern sie sich auf knapp 60%, vor der Debatte waren es gut 50%.

Wie lässt sich die differenzierte Reaktion erklären? «Unsere Interpretation ist, dass Biden in einem tiefen Loch steckt, aus dem er möglicherweise nicht mehr herauskommt», denkt Anlagestratege Jim Bianco. Falls die Demokraten eine akzeptable Alternative zu Biden finden, könnte aber auch Trump die Wahlen verlieren, meint Bianco weiter. «Anders gesagt, hat Trump bei der Debatte vielleicht einen Pyrrhussieg errungen?»

Die Antwort hängt davon ab, wer bei den Demokraten übernehmen würde. Grundsätzlich müsste bis spätestens zur Nomination am Parteikonvent vom 7. August eine Kandidatin oder ein Kandidat zum Ersatz von Biden gefunden sein. Dazu als Nebenbemerkung: Der Konvent wurde etwas später als sonst angesetzt, damit es nicht zur Konkurrenz mit den Olympischen Spielen um die mediale Aufmerksamkeit kommt.

Geht es nach den Wettbörsen kommen zwei alternative Kandidaten in Frage – und beide sind aus Kalifornien: Vizepräsidentin Kamala Harris und Gavin Newsom, Gouverneur des US-Gliedstaats. Genannt wird auch Gretchen Whitmer. Für die Gouverneurin von Michigan stehen die Quoten indes bei nur 5% – ähnlich niedrig wie bei Michelle Obama und Hillary Clinton.

Gemäss den Wettquoten hat sich Kamala Harris als Favoritin mit einer Wahrscheinlichkeit von fast 40% etabliert. Sie hat den Vorteil, dass sie bei der Bevölkerung bereits gut bekannt ist und Bidens Wahlkampfmaschine relativ leicht übernehmen könnte. Als Frau und Repräsentantin einer ethnischen Minderheit bringt die 59-Jährige weitere Pluspunkte für eine Kandidatur bei den Demokraten mit. Ihr politischer Leistungsausweis ist allerdings eher dürftig, und in den Umfragen schnitt sie bisher noch schlechter ab als Biden.

Gavin Newsom trauen die Wettbörsen eine Chance von rund 10% zu. Er strahlt Energie aus und ist redegewandt. Als Gouverneur und vormaliger Bürgermeister San Franciscos versteht er, worauf es in der Exekutive ankommt. Beim 56-Jährigen besteht aber das Risiko, dass er als Sohn wohlhabender Eltern und typischer Vertreter der «Westküsten-Elite» mit seiner geschliffenen Art im mittleren Westen und Südosten der USA auf Ablehnung stösst.

Entscheidend ist, dass die Quoten auf Plattformen wie PredictIT die Entwicklung der Umfragewerte reflektieren. Welchen Schaden Bidens schockierend schwache Performance bei der Debatte hinsichtlich seiner Wiederwahl verursacht hat, lässt sich erst allmählich abschätzen. Spekulationen über die Präsidentschaftskandidatur der Demokraten dürften sich intensivieren.

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