Donnerstag, November 13

Die demokratische Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris ist in Philadelphia zum ersten Mal mit ihrem neuen Vize Tim Walz aufgetreten. Der Gouverneur von Minnesota begeisterte mit seiner direkten, volksnahen Rhetorik.

Erst ein paar Stunden vorher hatte Kamala Harris ihn zu ihrem Running Mate gekürt, und nun stand sie mit Tim Walz, dem Gouverneur von Minnesota, am Dienstagabend in Philadelphia vor 12 000 Zuschauern. Es war der Auftakt zu einer Wahlkampftour durch die wichtigsten Swing States, und die Nervosität war Walz anzusehen. Noch vor kurzem war er auf der nationalen Bühne kaum bekannt, und plötzlich steht er, weit über die USA hinaus, im Scheinwerferlicht. Wie es ein Kommentator ausdrückte: «Vom Geschichtslehrer zu einem, der Geschichte macht.»

Der Football-Coach mit der progressiven Agenda

Harris eröffnete den Abend denn auch damit, dass sie ausführlich seine Biografie und seine politischen Wegmarken vorstellte. Nach seiner langjährigen Tätigkeit als Highschool-Lehrer und Football-Coach trat er erst spät, mit 43, in die Politik ein, laut eigenen Worten auf Drängen seiner Schüler. Damals, im Jahr 2007, wurde er Abgeordneter im Repräsentantenhaus und dann 2019 Gouverneur von Minnesota. Er gehört also nicht zum vielgescholtenen Washingtoner Establishment.

Harris zählte begeistert die Schwerpunkte seines politischen Wirkens auf, die wohl auch auf ihrer eigenen Agenda stehen: LGBT-Rechte, Legalisierung von Marihuana für Erwachsene ab 21, Gratismahlzeiten für Schüler, Erlass von Schulgebühren für einkommensschwache Familien, Förderung von Medicare, Einführung des bezahlten Urlaubs im Krankheitsfall, Recht auf Abtreibung. Das Publikum applaudierte bei jedem Programmpunkt.

Walz stand derweil neben Harris und wusste offenbar gar nicht recht, wie er mit dem plötzlichen Ruhm umgehen sollte. Er verzog sein Gesicht zu vielfältigen Grimassen, drehte sich wie ein Derwisch nach allen Seiten, lachte aus oft unerfindlichen Gründen und klatschte mit den Zuschauern angesichts seiner eigenen Errungenschaften.

Aber sobald er dann selbst an der Reihe war, war er in seinem Element. «Wow», sagte er überwältigt angesichts des nicht enden wollenden Applauses, «wow», und kratzte sich ungläubig am Ohr.

«Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten»

«Danke für das Zurückbringen der Freude», rief Walz zur Begrüssung, als er sich wieder gefasst hatte. Das traf die Stimmung. Es ist, als sei mit der Ersetzung von Biden durch Harris eine Schleuse geöffnet worden. Zwar wurde der Name des Präsidenten im Laufe des Abends kein einziges Mal genannt, aber es ist klar: Die Monate der fatalistischen Lähmung sind vorbei, plötzlich herrschen wieder Aufbruchstimmung und Risikofreude unter den Demokraten. Und als Zuschauer ist man froh, dass man nicht mehr bei jedem Satz Aussetzer und Patzer fürchten muss.

«Wir haben 91 Tage bis zur Wahl», sagte Walz und klang wieder ganz wie der frühere Trainer. «Mein Gott, das ist easy. Wir können schlafen, wenn wir tot sind.»

Dann ging’s zur Sache. «In Minnesota respektieren wir unsere Nachbarn und die persönlichen Entscheidungen, die sie fällen. Auch wenn wir selbst anders entscheiden würden, gibt es eine goldene Regel: Kümmere dich um deine eigenen verdammten Angelegenheiten.»

Früher seien es die Republikaner gewesen, die für Freiheit eingestanden seien, sagte er. Aber heute würden sie in die Schlafzimmer, die Büchereien und die Arztpraxen eindringen. Als Beispiel erzählte er, wie er und seine Frau nur dank In-vitro-Fertilisation zu ihren zwei Kindern gekommen seien, einer Technologie, die einige Republikaner verbieten wollen.

Alle geben sich als Vertreter des einfachen Volkes aus

Er ging auch kurz auf den Vorwurf ein, er habe bei den Ausschreitungen in Minneapolis, im Gefolge von George Floyds Erstickungstod unter dem Knie eines Polizisten, zu lange mit der Aufbietung der Nationalgarde zugewartet. «Machen wir eines klar», sagte er. «Die Gewaltverbrechen haben unter Trump zugenommen – selbst wenn man seine eigenen Verbrechen noch nicht einberechnet.»

Aber am wichtigsten war, wie er sich darüber lustig machte, dass ausgerechnet der Milliardär Trump und der frühere Investmentbanker Vance sich als Fürsprecher des «einfachen Volkes» aufspielen. Walz selbst, der als Kind auf der elterlichen Farm mitarbeitete, mit 17 der Nationalgarde beitrat, mit 19 seinen Vater verlor, nur dank einem Armeestipendium studieren konnte und mehr als zwanzig Jahre in einer öffentlichen Schule unterrichtete, verkörpert den Durchschnittsamerikaner auf eine glaubhaftere Art und greift damit das gegnerische Duo an einem zentralen und empfindlichen Punkt an.

Denn Walz stammt tatsächlich aus dem vielbeschworenen ländlichen, konservativen Milieu, und er hat im Gegensatz zu Vance dieser Welt nie den Rücken gekehrt. Offensichtlich – angesichts seiner Beliebtheitswerte in Minnesota – schafft er es, auch in diesem Umfeld für seine linken Anliegen Mehrheiten zu finden. Es sind genau diese Wählerschichten, um die auch Trump wirbt.

Endlich wieder eine richtige Wahl zwischen rechts und links

Einige Kommentatoren mahnen, Harris hätte besser einen Vize aus einem der umkämpften Gliedstaaten ausgewählt, um dort ihre Chancen zu erhöhen. Oder sie hätte jemanden aus der politischen Mitte suchen müssen, um ein Gegengewicht zu ihrer eigenen linken Position zu schaffen. Trump und die Republikaner beklagen, Walz sei ebenso extrem wie Harris – Bedenken, die man auch angesichts von Trumps Vize J. D. Vance äussern könnte.

Aber aus demokratischer und dialektischer Sicht gibt es nichts Fruchtbareres, als wenn Gegenspieler mit klar unterscheidbarem Profil aufeinandertreffen. Harris hat bei der Wahl von Walz nicht so sehr auf Wahlarithmetik, sondern eher auf den menschlichen Faktor und die emotionale Wirkung ihres Vize gesetzt. Schafft sie es, dank Walz die umkämpfte, eher konservative Mittelschicht in der Provinz abzuholen – und es spricht einiges dafür, dass die Rechnung aufgehen könnte –, hat sich ihre überraschende und vielleicht eher intuitive Wahl als goldrichtig herausgestellt.

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