Erst die Strafanzeige einer Zürcher Lehrerin beendet ein sadistisches Erziehungsregime. Das zu Freiheitsstrafen verurteilte Ehepaar ging in Berufung. Nun hat das Obergericht geurteilt.
Im September 2022 war ein Ehepaar vom Bezirksgericht Zürich wegen schwerer Körperverletzung zu Freiheitsstrafen von je 5 Jahren verurteilt worden. Die Richter waren damals zum Schluss gekommen, die Beschuldigten hätten acht Jahre lang «ein systematisches, sadistisches Erziehungsregime» gegen die leibliche Tochter des 44-jährigen deutschen Vaters aufgezogen. Seine 42-jährige Schweizer Ehefrau ist die Stiefmutter.
Der Vater hatte zudem einen Landesverweis von 10 Jahren erhalten. Die Tochter erhielt eine Genugtuung von 50 000 Franken zugesprochen.
Das Ehepaar ging in Berufung. Die Staatsanwältin beantragte lediglich Bestätigung der Vorinstanz. Das Obergericht hat nun die Freiheitsstrafe für die Frau moderat von 5 Jahren auf 4 Jahre gesenkt. Beim Vater hätten die Richter eine Freiheitsstrafe von 6 Jahren als angemessen angesehen. Aufgrund des sogenannten «Verschlechterungsverbots» bleibt es aber bei 5 Jahren. Auch der Landesverweis von 10 Jahren ist bestätigt worden.
Schuldpunkt eingestanden – oder doch nicht?
Eigentlich wäre es im Berufungsprozess nur noch um das Strafmass und den Landesverweis gegangen. Der Schuldpunkt – also die Verurteilung wegen schwerer Körperverletzung – blieb unangefochten und ist bereits rechtskräftig. Die Verteidiger erklärten allerdings, die Beschuldigten seien zwar grundsätzlich geständig. Das im vorinstanzlichen Urteil festgehaltene Ausmass ihres Fehlverhaltens stimme aber nicht.
Es hätten lange nicht alle Übergriffe, die dem Ehepaar angelastet würden, auch wirklich stattgefunden. Vieles sei von der Tochter völlig übertrieben dargestellt worden. Der Rechtsanwalt des Vaters beantragte deshalb die Einholung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens über die Tochter.
Die Haltung der Verteidiger löste im Gerichtssaal Diskussionen aus. Der Gerichtsvorsitzende erklärte, der Schuldpunkt sei akzeptiert, nicht angefochten und rechtskräftig. Somit könnten gar keine Beweisanträge mehr gestellt werden.
Er unterbrach auch das Plädoyer des Verteidigers, der längere Ausführungen zu den angeblichen Übertreibungen und Lügen der Tochter machte. Die vorinstanzliche Beweiswürdigung sei nicht mehr Prozessthema, betonte der Gerichtsvorsitzende, liess den Verteidiger dann aber doch gewähren.
Misshandlungen blieben durch Umzüge verborgen
Die Eltern sollen das Kind seit dessen siebtem Lebensjahr misshandelt haben. Innerhalb der acht für die Anklage relevanten Jahre zog die Familie sieben Mal in fünf verschiedenen Kantonen um. Die Misshandlungen blieben dadurch lange verborgen. Erst die Strafanzeige einer Zürcher Lehrerin, die Verletzungen des Kindes festgestellt hatte, beendete das Martyrium. Beide Eltern verbrachten 119 Tage in Untersuchungshaft.
Zu den Vorwürfen gehören Ohrfeigen, Schläge, auch mit einem Metallstab, kaltes und heisses Abduschen, Unter-Wasser-Drücken des Kopfes in der Badewanne und Würgen. Das Mädchen wurde an einen Bürostuhl gefesselt sowie im Badezimmer und im Keller eingesperrt. Der Vater schüttete ihm zugegebenermassen einmal ätzende Putzflüssigkeit über den Kopf.
Die Eltern hatten sich in der Untersuchung zu einem Teil der Vorwürfe geständig gezeigt. Vor Obergericht machten sie keine Aussagen mehr zur Sache, baten in ihren Schlussworten aber um Verzeihung und erklärten, seit der Entlassung aus der Haft würden sie in Therapien die Taten aufarbeiten und hätten sich geändert.
Der Verteidiger des Vaters beantragte eine bedingte Freiheitsstrafe von 18 Monaten und ein Absehen vom Landesverweis. Die Anwältin der Mutter plädierte auf eine teilbedingte Freiheitsstrafe von 30 Monaten. Von Grausamkeit und Sadismus als Tatmotiv, wie es die Vorinstanz festgestellt habe, könne nicht die Rede sein. Die Eltern seien mit einem schwierigen Kind überfordert gewesen, wurde argumentiert.
Die Rechtsanwältin der Mutter stellte sich auf den Standpunkt, bei ihrer Klientin habe der tatrelevante Zeitraum nur drei und nicht acht Jahre betragen und ihr Tatbeitrag sei geringer gewesen als jener des Vaters.
Tochter «wie eine Aussätzige gehalten»
Der vorsitzende Richter betont bei der Urteilseröffnung noch einmal, der von der Vorinstanz festgestellte Tatbestand sei verbindlich. Es müsse nicht jede einzelne Tathandlung bewiesen werden, sondern die Summe der Geschehnisse, die zu einer schweren psychischen Beeinträchtigung der Tochter geführt habe. Die schwere vollendete Körperverletzung sei erstellt.
Die Eltern hätten das Kind erniedrigt, eingesperrt, isoliert, ihm zum Teil die Nahrungsaufnahme verweigert, es «wie eine Aussätzige gehalten» und aus dem Familienverband ausgeschlossen. Die psychischen Folgen der «abscheulichen Taten» würden die Tochter noch Jahre oder sogar ein Leben lang verfolgen. Die Familie, die dem Kind eigentlich hätte Schutz bieten sollen, sei zu einem eigentlichen Albtraum geworden, aus dem es kein Entrinnen gegeben habe.
Von Überforderung könne keine Rede sein. Die Eltern seien planmässig und systematisch über Jahre hinweg vorgegangen, seit das Kind 7-jährig gewesen sei. Der vorsitzende Richter spricht von einer «erschreckenden kriminellen Energie im Umgang mit der eigenen Tochter».
Es handle sich um einen Eventualvorsatz. Die Eltern hätten nicht aus eigenem Antrieb aufgehört, sondern erst als sie «aufgeflogen» seien. Beide Beschuldigten seien in ihrer Schuldfähigkeit nicht eingeschränkt gewesen. Der Tatbeitrag der Mutter sei aber geringer gewesen.
Beim Vater liege kein schwerer persönlicher Härtefall für den Landesverweis vor. Er sei erst im Jahr 2006 in die Schweiz gekommen. Der Familie könne man zumuten, ins grenznahe Ausland zu ziehen. Und dass eine gemeinsame andere 12-jährige Tochter nun ihre Eltern an den Strafvollzug verliere, sei zwar bedauerlich, aber letztlich die Folge der eigenen Delinquenz der Beschuldigten.
Urteil SB230198 vom 18. 4. 2024, noch nicht rechtskräftig.