Helfen Eintrittsgebühren, die Fluten von Touristen einzudämmen? Der italienische Soziologe Marco d’Eramo über Städte, die den Tourismus nicht im Griff haben, und Reisende, die keine Touristen sein wollen.
Herr d’Eramo, demnächst reise ich nach Venedig. Übernachten werde ich in der historischen Altstadt in einem Palazzo, den eine Freundin auf Airbnb gemietet hat. Muss ich mich deswegen schämen?
Marco d’Eramo: Ich habe vor ein paar Jahren auf Lesetour mit meinem Buch «Die Welt im Selfie» ebenfalls in Venedig haltgemacht. Es handelt sich um ein kritisches Buch über Tourismus. Die anwesenden Venezianer haben die Gelegenheit genutzt, bei mir ausführlich darüber zu jammern, dass Touristen ihre Stadt überfluteten und sie praktisch unbewohnbar machten. Als ich nachfragte, erfuhr ich, dass viele von ihnen Liegenschaften und Wohnungen auf Airbnb vermieten. Sie sehen also: Dieselben Stadtbewohner, die behaupten, unter Overtourism zu leiden, machen Geld mit ihm.
Aber was ist Ihre Antwort auf mein Dilemma?
Sie müssen sich nicht schlecht fühlen. Niemand muss sich schlecht fühlen, weil er an einen Ort verreist, der kein Tourismus-Management hat.
Aber Venedig versucht den Tourismus doch zu managen. Seit Ende April bezahlt jeder Besucher Venedigs eine Gebühr von fünf Euro – Airbnb-Benutzer ausgenommen. Was bringt diese Massnahme?
Die Steuer ergibt natürlich keinen Sinn. Wenn es als Abschreckung gegen einen Besuch in Venedig dienen sollte, ist es zu wenig: Fünf Euro sind nur ein Trinkgeld, das man an der Bar hinterlässt. Ich kenne viele Museen mit etwa einem Dutzend Werken, die mindestens 20 Euro Eintritt verlangen. Für alles, was es in Venedig zu sehen gibt, sollten sie mindestens 100 oder 200 Euro verlangen. Dann hätte es vielleicht den Effekt, den Zustrom von Touristen zu begrenzen.
Dann wären wir beim alten Modell des Reisens zu Zeiten der Grand Tour, als nur wenige, sehr reiche Menschen etwas von der Welt sehen konnten.
Natürlich wäre eine solche Steuer aus ethischer und rechtlicher Sicht nicht vertretbar. Es würde die verfassungsmässigen Rechte der italienischen Bürger verletzen. Und es würde die Bewegungsfreiheit grosser Teile der Bevölkerung einschränken.
An gewissen Wochenenden zählt Venedig bis zu 100 000 Besucher im historischen Zentrum. Eine halbe Million Euro in zwei Tagen – damit kann die Stadt Programme und Infrastrukturen finanzieren, die den Einwohnern zugutekommen werden. Das klingt wohlüberlegt.
Der Haushalt 2023 der Gemeinde Venedig beläuft sich auf 1,4 Milliarden Euro. Die 5-Euro-Steuer für 30 Tage im Jahr würde selbst unter der Annahme, dass es an all diesen Tagen 100 000 Tagesgäste gibt (die also nicht übernachten: Sie sind die Einzigen, für die die 5-Euro-Steuer gilt), 15 Millionen Euro ergeben, rund ein Prozent des Gemeindehaushalts. Ein Tropfen im Ozean. Ich bin mir sicher, dass die Bewohner von den Zusatzeinnahmen nicht viel sehen werden.
Wird eine Gebühr die Stadt verändern?
Ja. Venedig ist jetzt offiziell keine Stadt mehr, sondern ein Museum. Die Gebühr institutionalisiert ihre Musealisierung. Das Ziel sollte hingegen das Gegenteil sein: sicherzustellen, dass Venedig nicht nur ein Museum ist. Diese Massnahme macht es den Bewohnern nicht einfacher, in der Stadt zu leben, sie gibt ihnen nicht alle alltäglichen Dienstleistungen und Geschäfte zurück, die ein Einwohner braucht und die der Tourismus zur Schliessung geführt hat: Eisenwarenhändler, Tischler, Schuster und dann Theater, Kinos, Fitnessstudios.
In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie Venedig schon im 17. Jahrhundert seine Bedeutung als Weltwirtschaftsmacht verlor und den Tourismus als Ersatzindustrie entdeckte und gezielt Attraktionen erfand, um noch mehr Besucher anzulocken.
Nehmen Sie den Karneval: Was ursprünglich nur ein paar Tage dauerte, wurde um ein paar Wochen verlängert, damit noch mehr ausländische Besucher die Stadt besuchen konnten. Später wurde er auf sechs Monate ausgedehnt und ist damit zum Normalzustand geworden. Die Zeit ohne Karneval war die «tote Zeit», und man bemühte sich schon im 18. Jahrhundert, den Touristen Abwechslung zu bieten. Dazu wurden von venezianischen Kaufleuten Kunstwerke und Reliquien herbeigeschifft. Vieles, was Besucher heute als integralen Bestandteil der Stadt wahrnehmen, wurde damals in der Absicht geschaffen, Touristen anzulocken.
Allerdings schufen andere Städte auch gezielt Attraktionen, um Besucher anzulocken. Berlin hat zum Beispiel immer noch den Checkpoint Charlie, obwohl die Mauer längst weg ist.
Berlin ist ein gutes Beispiel, um zu zeigen, wie man attraktiven und ökonomisch nachhaltigen Tourismus macht. Nachtleben, Kunst und Kultur der Stadt ziehen Besucher an. Aber Berlin stellt sein Einkommen nicht nur auf Tourismus ab, sondern auch auf andere Industrien: Chemie, Pharma, Maschinenbau und so weiter. Dasselbe gilt für London oder Paris, die zwar beliebte Touristendestinationen sind, aber nicht allein von dieser Industrie leben. Diese Städte erkennt man auch daran, dass die Touristen dieselben Dienstleistungen beanspruchen wie die Bewohner. Sobald die Einwohner einer Stadt gezwungen sind, Leistungen zu beanspruchen, die eigentlich für Touristen wären, ist der Kipppunkt erreicht.
In Barcelona finden die Einwohner, der Kipppunkt sei längst erreicht, und protestieren gegen den Massentourismus. Zu Recht?
Dazu muss man wissen, dass auch Barcelona in den letzten Jahrzehnten gezielt seine Attraktivität für Besucherinnen gesteigert hat. Für die Olympischen Spiele 1992 wurde ein Strand in der Stadt gebaut, ebenso wie die Fussgängerzone Las Ramblas sich über die Jahrzehnte auf Touristen spezialisiert hat mit ihren Strassenkünstlern und Souvenirläden. Und mit Erasmus-Programmen wurden Jugendliche aus ganz Europa angelockt.
Vor Jahren habe ich in Barcelona an einem Haus ein Transparent gesehen mit der Aufschrift: «Why call it tourist season if we can’t shoot them?» («Warum nennt man es Touristensaison, wenn man nicht auf sie schiessen darf?») Das Transparent war so aufgehängt, dass man es im Park Güell sah, der von Touristen überflutet wird. Die Nachbarn fürchten um den Charakter ihrer Stadt, um ihre Identität. Eine berechtigte Angst?
Ah, jetzt kommt dieses Wort. Die Frage nach der Identität eines Orts. Jetzt wird’s schwierig. Schauen Sie, ich wohne seit Jahrzehnten in Rom. Macht mich das zum Römer? Nein. Ich spreche nicht einmal den römischen Dialekt. Was mich an diesem Identitätsbegriff stört, ist diese Abgrenzung «wir gegen die anderen», und dabei sind die «anderen» natürlich stets weniger wert. In Barcelona, das in Katalonien liegt, ist Identitätspolitik besonders verbreitet. Die Katalanen halten grosse Stücke auf sich selbst. Davon abgesehen gibt es den Grundirrtum, dem viele Stadtbewohner erliegen: Sie meinen, die Stadt gehöre ihnen. Aber eine Stadt hat ganz viele wirtschaftliche Funktionen. Und meistens ist eine davon Tourismus.
Die Kritik am Tourismus ist nicht neu. Schon Anfang des 19. Jahrhunderts gab es im Grossbürgertum Klagen über die vielen Ausländer in den Städten.
Ja, und dabei waren es damals wohl nur ein paar hundert Reisende, die sich in Städten wie Florenz oder Rom aufhielten. Und dabei waren es ja nicht die Städte selbst, die den Tourismus förderten. Erst als Destinationen per Bahn oder Schiff erreichbar wurden, kamen die Touristen in Massen. Es war diese Transportrevolution, die den Massentourismus erst ermöglichte. Und später kam noch eine soziale Revolution dazu: die Einführung bezahlter Ferien für alle. In Europa war Frankreich das erste Land, das 1936 gesetzlich vier Wochen vorschrieb.
Touristen werden oft verachtet. Dabei sind wir fast alle irgendwo Touristen.
Genau. Wir verachten uns mit anderen Worten selber. Und dann gibt es noch jene, die sich als Reisende bezeichnen und abstreiten, Touristen zu sein.
Sie leben in Rom, wo der Tourismus die Stadt stark verändert hat. Hat das Ihre kritische Haltung geprägt?
Mir ist wichtig zu sagen, dass ich nicht die Touristen kritisiere, sondern das fehlende Management einer Industrie, die Schaden anrichtet. Klar sehe ich die Auswirkungen des unregulierten Tourismus auf Rom. In meinem Haus bin ich neben Airbnb-Wohnungen bald der einzige Einheimische, alle anderen sind weggezogen, wahrscheinlich, weil sie sich die Stadt nicht mehr leisten können.
In Ihrem Buch bezeichnen Sie die Zeit, in der wir leben, als «Tourismuszeitalter». Ist Tourismus nicht einfach ein soziales Phänomen?
Nein. Tourismus ist nicht nur ein soziales Phänomen, er ist die wichtigste Industrie des 21. Jahrhunderts. Im Buch belege ich das mit Zahlen. In Europa macht der Tourismus über 10 Prozent der Wirtschaftsleistung aus, in manchen Ländern wie Griechenland fast 20 Prozent. Und hier ist nicht einberechnet, was andere Wirtschaftszweige am Tourismus verdienen: Fluggesellschaften etwa. Tourismus ist aber wie früher die Schwerindustrie: Er verursacht Umweltschäden oder soziale Nachteile für Einheimische, wenn man ihn nicht reguliert.
Würde es nicht uns Touristen obliegen, nachhaltiger zu reisen? Zug statt Flugzeug, Hotel statt Airbnb?
Vielleicht. Aber den Touristen die Schuld in die Schuhe zu schieben für die negativen Auswirkungen des Tourismus, finde ich falsch. Würde man dem Arbeiter eines VW-Werks die Schuld geben für die Umweltschäden der Autoindustrie? Die Kritik an Touristen halte ich für böswillig. Und ganz besonders kritisch wird es, wenn man dem Touristen den «Reisenden» gegenüberstellt. Dabei ist der Reisende auch nur ein Tourist, der abstreitet, einer zu sein.
Woher kommt unser Drang, zu verreisen?
Zwei Dinge. Das Erste ist sicher unsere Neugier. Wir wollen Neues erfahren und entdecken.
Eine schöne Eigenschaft des Menschen.
Oh, diese Meinung teile ich nicht uneingeschränkt. Zum Beispiel kann Neugier auch heissen, dass jemand neugierig auf Sex mit Kindern ist, der in fernen Ländern angeboten wird.
Stimmt. Was aber motiviert uns neben der Neugier zum Reisen?
Die Ausübung unserer Freiheit, die wir heute in erster Linie als Bewegungsfreiheit definieren.
Wir verreisen, weil wir es können?
So ist es. Unterschätzen Sie nicht, was Menschen alles tun, bloss weil sie dazu in der Lage sind. Als die Mobiltelefonie aufkam, riefen sich die Leute ohne jeglichen Grund an. Nur um zu zeigen, dass sie jetzt vom Handy aus jemanden anrufen konnten. Ähnlich verhält es sich mit dem Reisen – vor allem seit der Pandemie.
Sie haben Ihr Buch vor der Pandemie geschrieben. Wie haben Sie die Zeit erlebt, als der Tourismus komplett zum Erliegen kam?
In Rom und in anderen Städten, wo man sich zuvor über die vielen Touristen beklagt hatte, trauerte man wegen fehlender Einnahmen und malte Szenarien in den düstersten Farben. Nie wieder werde die Welt dieselbe sein, hiess es. Überhaupt wurde mir oft gesagt: Von nun an wird alles anders! Die Angst vor dem Kontakt zu anderen Menschen werde den Massentourismus verändern, und Business-Reisen per Flugzeug würden gleich ganz zum Erliegen kommen. Nichts davon ist eingetreten, das Gegenteil ist passiert. Es gibt einen Nachholeffekt. Es ist momentan, wie wenn ein Übergewichtiger nach einer Diät sich sein Ursprungsgewicht plus noch ein paar Kilos anfrisst. Wie sich die Reisebranche momentan entwickelt, ist einem Aufholeffekt geschuldet. Nichts daran ist normal. Und es wird sich wieder einpendeln.
Etwas haben Sie vorweggenommen in Ihrem Buch: den Trend zu Nahreisen.
Unser Wissen über die Welt ist geprägt vom Fliegen. Unsere Weltkarte ist gemustert wie ein Leopardenfell: Flecken, die wir kennen, und grosse Gebiete, die wir überfliegen. Das Internet hat uns weit entfernte Länder nähergebracht, aber dieselbe Technologie hat zwischen die Dinge auch Entfernung gebracht. Das Nahe wird so zum Exotischen. Das Umland unseres Wohnorts ist für uns Fremde, bewohnt von fremden Menschen.
Wenn wir tatsächlich im Tourismuszeitalter leben, wann endet dann diese Epoche?
Es ist wie mit dem Altwerden. Wann ist der Zeitpunkt, an dem wir alt sind? Wenn die ersten grauen Haare kommen? Die ersten chronischen Gebrechen? Eines Tages wachen wir auf und merken, dass wir alt sind. Genauso ist es mit dem Ende einer Epoche. Wir werden erst beim Zurückblicken merken, dass sie zu Ende ging.
Und was kommt danach?
Irgendwann wird man nicht mehr unterscheiden können, ob jemand Tourist ist oder nicht. Denn diese Tätigkeit, das «Reisen», wird nicht mehr zu trennen sein von anderen Aktivitäten. Es wird zur eigentlichen Lebensform.
Erklären Sie das bitte konkret.
Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Ich reise viel nach Griechenland. Dort sehe ich tagsüber junge Italiener am Strand beim Schwimmen oder bei Ballspielen. Am Abend arbeiten dieselben Leute an der Bar oder im Restaurant. Sind das nun Reisende oder Einwohner? Wenn ich jetzt, wie ich es ab und zu mache, nach London reise, um dort in der Bibliothek zu recherchieren, und am Abend in ein Konzert gehe, bin ich nun Tourist, oder was bin ich? Erste Länder tragen dieser Entwicklung bereits Rechnung. In Kopenhagen etwa nennt man die Besucher «temporäre Einwohner».