Freitag, Oktober 18

Der Gerichtspsychiater Reinhard Haller kennt die dunklen Seiten des Menschen wie kein Zweiter. Sein bekanntester Fall: Jack Unterweger, der Serienmörder, der freikam, weil er alle getäuscht hatte. Ein Gespräch über die Faszination des Bösen, charmante Psychopathen und über die Grenzen forensischer Therapien.

Österreich, Anfang der neunziger Jahre. In Wien, Graz und Bregenz werden mehrere Prostituierte umgebracht. Im Rotlichtmilieu geht die Angst um.

Der ORF schickt einen Reporter auf Recherche in den 15. Wiener Bezirk, einen Mann mit einem weissen Ford Mustang. Am Radio berichtet er über eine Prostituierte, die zu ihm ins Auto gestiegen ist: «Angefangen hat sie wie die meisten ohne behördliche Genehmigung, als Amateurin. Seit drei Jahren ist sie registriert. Das heisst, sie muss wöchentlich zur polizeilichen und ärztlichen Kontrolle. Sie steht unter dem Eindruck der ungeklärten Mordfälle.»

Der Mann am Mikrofon ist Jack Unterweger: Schriftsteller, Journalist, Liebling der Intellektuellen und gerngesehener Gast auf Partys der Wiener Schickeria. Und: seit Mai 1990 auf freiem Fuss – nachdem er eine Freiheitsstrafe wegen Mordes abgesessen hatte.

Ein Mörder, der einer Mordserie nachspürt?

Es ist nicht die einzige absurde Note eines ebenso spektakulären wie tragischen Kriminalfalls, der viel über die Faszination des Bösen aussagt. True Crime avant la lettre.

Einer, der Unterweger gut kennt, ist der Gerichtspsychiater Reinhard Haller. Er hat den Verbrecher in den neunziger Jahren begutachtet. Bis 2017 war Haller Chefarzt einer Klinik in Vorarlberg. Heute lehrt er an der Medizinischen Universität Innsbruck und an der Siegmund-Freud-Universität in Wien. Der 71-Jährige hat eine eigene Praxis für psychiatrisch-psychotherapeutische Beratungen in Feldkirch. Haller hat mehrere Bücher geschrieben («Die Narzissmusfalle», «Rache», «Das Böse»). Zuletzt ist von ihm erschienen: «Die Macht der Kränkung».

Herr Haller, Krimis und True-Crime-Storys boomen seit Jahren. Warum interessieren sich die Menschen so sehr für Mörder, fürs Töten und für Leichen?

Der einfachste Grund ist: Kriminalgeschichten sind spannend. Verbrechen sind Psychologie pur. Sie bringen Dinge in konzentrierter Form zum Ausdruck, die sonst meist unsichtbar bleiben: Eifersucht, Gier, Kränkung, Hass, Leidenschaft. Wir benutzen Kriminalgeschichten als Spiegel für uns selbst. Jeder Mensch hat gute und böse Seiten. Wir wollen diese Schattenseiten, die seelischen Abgründe in uns kennenlernen.

Es geht beim Zuschauen also gar nicht so sehr um Verbrecherfiguren, sondern um uns selbst?

Ja. Der Mensch ist das einzige Tier, das seine Aggressionen destruktiv einsetzt. Das fasziniert uns. Die einen gehen zum Psychoanalytiker, um sich in Hunderten von Stunden spiegeln zu lassen. Die anderen – die grosse Mehrheit – liest Kriminalromane oder schaut True-Crime-Serien, um die dunklen Seiten der eigenen Persönlichkeit zu entdecken, deren wir uns zum Teil gar nicht bewusst sind.

Was halten Sie von dem Gedanken, dass Krimis und True-Crime-Geschichten deswegen so beliebt sind, weil wir mit ihnen Bedrohungsszenarien mental durchspielen können – um uns darauf vorzubereiten, aus sicherer Distanz vom Sofa aus?

Sie meinen die Simulationstheorie. Das ist eine Erklärung. Ich favorisiere sie nicht. Allerdings kamen Bedrohungen früher viel öfter vor. Kriege und körperliche Arbeit waren wichtig, um Aggressionen abzubauen. Das haben wir so nicht mehr. Dafür haben wir es in der heutigen Gesellschaft mit einem gigantischen Aggressionsstau zu tun. Den meisten gelingt es, dieses Potenzial zu kanalisieren: beim Sport, im wirtschaftlichen Wettbewerb, beim «Tatort»-Schauen. Einigen aber gelingt dies nicht.

Jack Unterweger war ein Frauenmörder, und trotzdem haben sich sehr viele Frauen in ihn verliebt. Und er war ein Star der Wiener Gesellschaft. Wie erklären Sie sich dieses Phänomen?

Auch das hat mit der Faszination des Bösen zu tun. Unterweger war der Prototyp des malignen Narzissten. Das ist ein Störungsbild, das Otto Kernberg, der berühmteste Psychiater der Welt, bei amerikanischen Serienkillern beschrieben hat und das sich auch bei vielen Despoten der Weltgeschichte findet: Stalin, Nero, Iwan der Schreckliche, Pol Pot und wie sie alle heissen. Figuren also, die wir gerne als geisteskrank bezeichnen – um unsere Ängste vor ihnen fassbar zu machen. Wir sagen uns: «Die müssen verrückt gewesen sein», und projizieren dieses Bild auf Menschen, die Böses tun. Tatsächlich ist es aber so, dass das Böse auch dem gesunden Hirn entspringen kann.

Also war Unterweger nicht geisteskrank?

Ich möchte es präziser ausdrücken, mit vier Symptomen: Unterweger war ein charmanter Narzisst, allerdings einer, der seine Selbstverliebtheit auf Kosten anderer auslebte. Er musste andere Menschen entwerten, niedermachen, vergewaltigen, töten, um in seiner Durchschnittlichkeit herausragen zu können. Wie ein Einäugiger, der König ist, wenn er lauter Blinde um sich hat. Zweitens sind diese bösartigen Narzissten hochgradig sadistisch: Sie empfinden sexuelle Lust, wenn sie andere quälen. Drittens sind sie dissozial: Sie halten sich an keine Gesetze. In ihrer «Grossartigkeit» schaffen sie sich ihre Regeln selbst.

Welches ist die wichtigste dieser Regeln?

Sie wollen anerkannt werden. Dieses persönliche Ziel gilt absolut, und alles andere gilt nicht: kein Recht, kein Gesetz, keine Ordnung.

Und das vierte Element?

Maligne Narzissten sind paranoid. Sie gehen mit einem grossen Misstrauen durch die Welt. Ihre Taten planen sie sehr genau. Daher bleiben sie oft unerkannt. Wir müssen zum Beispiel davon ausgehen, dass in der westlichen Welt 120 solcher Serienkiller frei herumlaufen, weil ihnen bisher niemand auf die Schliche gekommen ist. Bei Jack Unterweger kamen all diese Symptome zusammen. Er war nicht nur charmant, sondern hochgradig manipulativ. So hat er seine Mitmenschen und die Öffentlichkeit getäuscht. Und natürlich seine Opfer.

Was hat Unterweger mit seinen Opfern gemacht?

Er hat in jungen Jahren eine Frau in Deutschland ermordet, auf grauenhafte Weise. Er hat sie in einer kalten Nacht nackt durch den Wald getrieben, mit einer Stahlrute malträtiert und sich an ihrem Todeskampf ergötzt. Und sie dann mit ihrem eigenen Büstenhalter stranguliert. Er ist zwar zu lebenslanger Haft verurteilt worden, aber er hat es dank seinen manipulativen Fähigkeiten geschafft, dass er nicht wegen eines sadistischen Sexualmords ins Gefängnis musste, sondern «nur» wegen Raubmords. So entging er der Verwahrung.

In Österreich können lebenslang verurteilte Straftäter nach mindestens 15 Jahren entlassen werden, «wenn anzunehmen ist, dass sie keine weiteren strafbaren Handlungen begehen werden», wie es unter Paragraf 46 des Strafgesetzbuchs heisst . . .

Unterweger wurde nach diesen 15 Jahren entlassen. In Haft hatte er alles dafür getan, um sein narzisstisch-sadistisch-dissoziales Wesen zu tarnen. Er hatte sich in der Hierarchie der Strafanstalt emporgearbeitet. Am Ende war er des Direktors rechte Hand. Er lernte richtig lesen und schreiben, er las Handke und sagte sich: «Das kann ich auch, und zwar viel besser!» Er schrieb einen – gefälschten – autobiografischen Roman. Viele Intellektuelle in Österreich waren beeindruckt. Wer so schreiben könne, sei geläutert. Der könne nur ein guter Mensch sein, ein Paradebeispiel der Rehabilitierung, den müsse man doch entlassen! Das ist dann auch geschehen.

Jack Unterweger hatte sich in Haft ein neues Image zugelegt. Er schrieb Gedichte und Gutenachtgeschichten für Kinder. In seiner Autobiografie bediente er das Bild einer harten Kindheit – mit durchschlagendem Erfolg. Das Buch wurde sogar verfilmt. Österreich hatte einen neuen Star am Literatenhimmel. Schriftsteller lancierten eine Petition für ihn. Elfriede Jelinek schrieb in einem Brief an die verantwortliche Justizbehörde: «Die Klarheit, mit der Jack Unterweger die Ursachen für seine Kindheit beschrieben hat, hat grossen Eindruck auf mich gemacht.»

So kam es, dass Unterweger für ungefährlich befunden wurde und freikam. Ohne Bewährungsauflagen.

Der Ruhm des gefeierten Knast-Poeten währte jedoch nur kurz. Nach den Mordfällen im Rotlichtmilieu geriet Unterweger selbst in den Fokus der Ermittlungen. Stichhaltige Alibis konnte er nicht vorlegen. Zum Verhängnis wurde ihm schliesslich ein Haar, das Kriminalbeamte in seinem Auto fanden. Eine DNA-Analyse ergab, dass das Haar zu 99,9 Prozent von einem der Opfer stammte.

Am 29. Juni 1994 wurde Unterweger des neunfachen Mordes für schuldig befunden und erneut zu lebenslanger Haft verurteilt. In der folgenden Nacht erhängte er sich in seiner Zelle. Mit demselben Knoten, mit dem er auch seine Opfer erwürgt hatte.

Herr Haller, die Geschichte von Jack Unterweger klingt unglaublich. Gibt es einen Moment, der Ihnen als besonders skurril in Erinnerung geblieben ist?

Unterweger hat nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis unter anderem als Reporter des ORF gearbeitet. Er «recherchierte» zu den Prostituiertenmorden im Wiener Milieu, ausgerechnet! In Nachrichtensendungen gab es auch Live-Schaltungen mit ihm. Einem Kriminalbeamten stellte er kritische Fragen zu den polizeilichen Ermittlungen. Nach diesem Interview liess der Beamte Unterweger wissen, dass die Polizei nun alle ähnlichen Morde der vergangenen Jahre überprüfen werde, darunter auch seinen Fall aus den siebziger Jahren. Später hat Unterweger Panik bekommen und sich über Zürich und Paris in die USA abgesetzt, wo er schliesslich verhaftet und ausgeliefert wurde.

Sie haben ihn beim Prozess 1994 begutachtet. Wie kam es dazu?

Unterweger hat psychiatrische Untersuchungen immer abgelehnt. Das Gericht hatte dann beschlossen, mich als einen unvoreingenommenen Experten beizuziehen, aus Vorarlberg, also vom anderen Ende Österreichs. Ich sollte ihn beim Prozess beobachten und so ein psychiatrisches Urteil abgeben, so gut es eben ging.

Wie haben Sie das gemacht?

Zunächst hab ich mich ihm vorgestellt in einer Pause. Darauf er zu mir: «Ach, Sie sind das, wenn ich das gewusst hätte!» Ich war damals noch sehr jung und habe noch jünger ausgesehen. Für Unterweger war sofort klar: Mit diesem Grünschnabel von einem Sachverständigen habe er leichtes Spiel. Da zeigte sich das Manipulative, das solche Menschen in sich haben. Danach konnte ich die ganzen Untersuchungen durchführen mit ihm und bin zu dem nicht einfachen Schluss gekommen, dass es sich hier um einen bösartigen Narzissten handle. Ein bizarres Phänomen.

Nach Ihrer Beschreibung kann man eigentlich nur sagen: ein Monster, mit dem man nichts zu tun haben will. Trotzdem war Unterweger ein Frauenheld.

Und wie. Er hat Frauen auf unglaubliche Weise angesprochen. Er musste einmal einen langen Test ausfüllen, bei dem ich als Gutachter dabei war, damit er nicht schwindelte. Da sagte er mir: «Sie können währenddessen meine Post lesen.» Das waren 42 Briefe, die er in Untersuchungshaft bekommen hat. Die Absender waren alles Frauen. Und alle haben ihn wissen lassen, dass sie ihn liebten. Weil er unschuldig sei. Weil er schuldig sei und sie ihn zu einem besseren Menschen machen wollten. Von bekannten Schauspielerinnen über eine 80-jährige Nonne bis zu einem 16-jährigen Mädchen war alles dabei.

Die Frauen waren hinter einem Mörder her. Woher kommt diese starke Anziehungskraft eines Gewaltverbrechers? Waren sie von Angstlust getrieben?

Mir hat der Unterweger damals gesagt, er habe in den 650 Tagen in Freiheit mit 151 Frauen geschlafen. Eine beträchtliche Rate. Er hat seine Eroberungen genau eingeteilt: Da gab es die Hofratsgattinnen, die einmal etwas Verbotenes tun wollten ausserhalb ihrer schönen bürgerlichen Welt. Und ja, da gab es Frauen, die tatsächlich sagten, nur ein Mörder sei ein echter Mann. Töten als Zeichen der Stärke. Und solche, die glaubten, nur ein Serienkiller gebe ihnen den ultimativen Kick.

Trotzdem: mit einem Serienmörder ins Bett gehen . . . ?

Das nennt man Hybristophilie: wenn Menschen sich in einen Häftling verlieben. Das kommt recht häufig vor. Manche Frauen finden das sehr faszinierend. Maligne Narzissten sind geschlagen mit dem Charme des Psychopathen: Sie können ihnen etwas vorspielen, sie können sehr auf sie eingehen, sie verstehen sie zutiefst. Man habe mit ihm so gut reden können – das sagten bei Unterweger alle Frauen. Die Seelenforscherinnen, die seine Abgründe erkunden wollten. Und die Retterinnen. Die wollten ihm etwas Gutes tun.

Einem Verbrecher etwas Gutes tun wollen?

Ja. Diese Frauen hatten den missionarischen Drang, Unterweger zu helfen, ihn zu einem guten Menschen zu machen, ihn zu heilen. Edle Motive zwar, die in sich aber ebenfalls narzisstisch sind. Und von Verzweiflung getragen.

Das müssen Sie uns erklären.

Die Erklärung ist einfach. So agieren Frauen, die von ihren Männern verlassen worden sind – und die dann jemanden haben wollen, der ihnen nicht weglaufen kann. Zum Beispiel einen Häftling.

Aber spürt man das nicht, wenn einem Zuneigung nur vorgespielt wird und sie gar nicht real ist?

Das ist genau das Problem. Narzissten haben wenig Empathie. Ihre Emotionen sind keine echten Emotionen, sondern künstlich. Wie das Glücksgefühl bei Drogensüchtigen, das auch nicht echt ist. Das klingt absurd, aber das begeistert viele Menschen. Das sieht man auch in der Politik, bei Donald Trump in den USA zum Beispiel, bei Bolsonaro in Brasilien oder bei Duterte in den Philippinen.

Sind Sie Gerichtspsychiater geworden, weil Sie sich ebenfalls für dunkle Persönlichkeiten interessieren?

Bei mir war das Zufall. Ich bin in einem sonnigen Elternhaus aufgewachsen. Aber ich hatte ein einschneidendes Erlebnis als Kind. Meine Mutter war ein sehr gütiger Mensch. In dieser heilen Welt gab es einmal einen Zeitungsbericht, in dem stand, dass in einem Dorf in der Nähe einer jemanden umgebracht habe: erschlagen auf einem Platz und den Leichnam ins Gebüsch geschleift, Blutspur auf dem Asphalt. Den Mörder hat man nie gefunden, aber wir Kinder haben uns ausgemalt, was wir mit ihm alles anstellen würden zur Strafe. Da hat meine Mutter gesagt: «Mir tut er eigentlich leid.» Ich vermute, dass das mein Interesse für die Täterseite geweckt hat. Gerichtspsychiatrie ist ein höchst interessantes Gebiet.

Warum?

Wenn ich eine wissenschaftliche Karriere verfolgt hätte, hätte ich mich vom Menschen immer weiter entfernt – weil Assistenten die Untersuchungen mit Patienten durchführen, nicht die Professoren. Meine Arbeit als Gutachter hingegen spielt sich immer «face to face» ab, vom Anfang bis zum Ende, ohne Drittpersonen. Ich habe 500 Menschen untersucht, die ein Tötungsdelikt begangen haben. Insgesamt also habe ich zwei Jahre meines Lebens mit diesen Verbrechern in Einzelhaft verbracht. Und ich bin immer mit einer grossen Neugier zu diesen Treffen gegangen.

Reicht Neugier, um ein guter Gerichtspsychiater zu sein?

Nein. Je grösser das Verbrechen, desto grösser der Psychologe, der dahintersteckt. Man sollte diesen Menschen auf Augenhöhe begegnen. Anerkennen, dass sie psychologisch begabter sind als man selbst. Viele Täter müssen das nicht lernen. Sie haben eine gute Menschenkenntnis, sie können sehr gut vorausdenken. Nur wenn man sich dem bewusst ist, hat man eine gute Chance, zu einer treffenden Einschätzung zu gelangen.

Viele Morde sind nicht raffiniert. Es gibt auch schnöde Taten, schnöde Täter.

Das stimmt. Der Grossteil ist trivial. In Deutschland, Österreich und der Schweiz passieren 70 bis 80 Prozent der Tötungsdelikte im zwischenmenschlichen Bereich. Also nicht in einer dunklen Gasse oder im Wald wie bei Unterweger, sondern zu Hause. Die Hintergründe der Frauenmorde sind anders als vor zwanzig Jahren.

Was hat sich geändert?

Sexualmorde sind drastisch zurückgegangen. Raubmorde sind zurückgegangen. Die Zahl der Delikte aus einem Affekt heraus ist ungefähr gleich geblieben. Und die Rachemorde gekränkter Männer haben eindeutig zugenommen. Früher haben sich die Täter häufig das Leben genommen, heute sind sie nicht einmal mehr fassungslos, sondern sie sagen seelenruhig: «Ich hatte das Recht dazu.» Wenn man mit diesen Tätern spricht, hat man das Gefühl, man habe gerade mit dem Opfer gesprochen.

Was erzählen sie Ihnen?

Dass sie mit der von ihnen Getöteten durch die Hölle gegangen seien. Aber damit ist keine Gewalt gemeint, keine Erniedrigungen. Viele dieser Männer fürchten vielmehr den Machtverlust, sie haben Angst vor Liebesentzug, sie verdächtigen ihre Partnerin, treulos zu sein – und schreiten dann zur Tat.

Einfach so?

Das, was in solchen Tätern vorgeht, ist interessant. Zum einen sind Männer emotional weniger kompetent als Frauen. Dafür sind sie aggressiver, primitiver, körperlich stärker. Zum anderen kommt bei Rachemorden die männliche Urangst zum Ausdruck, zu wenig geliebt zu werden. Psychodynamisch würde man sagen: dass man ihnen die Muttermilch entziehen könnte, die sie brauchen. Ein Mann gibt das nicht zu, weil sich das nicht mit unserem Männerbild verträgt. Frauen sind eher bereit, zu einem Psychotherapeuten zu gehen. Männer, die sich gekränkt fühlen, keinesfalls. So staut sich etwas an.

Bis sie nicht mehr anders können, als ihre Partnerinnen umzubringen?

Kränkung kann ein Gefühl der Ohnmacht erzeugen, und Ohnmacht ist die Basis von Hass. All das liegt bei den Frauenmorden heute häufig zugrunde. Bei Amokläufen an Schulen ist es ähnlich. Für Teenager ist die Schule der Ort der meisten Kränkungen. Die Maske der Coolness der späteren Täter kann leicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Menschen sehr verletzlich sind. Bis sie sich eines Tages rächen wollen: für eine schlechte Note, dafür, dass sie nie eine Freundin hatten, und so weiter.

Wollte sich Jack Unterweger ebenfalls rächen bei seinen Opfern?

Das glaube ich nicht. Bei ihm dominierte das sexuell-sadistische Moment. So soll er auf einer der vielen Partys damals gesagt haben: Frauen mit tief ausgeschnittenem Décolleté sollte man die Brustwarzen abzwicken – eine der zahlreichen sadistischen Phantasien, die sich durch sein Leben zogen.

Sie haben als Gutachter fast täglich mit solchen Phantasien zu tun. Was macht das mit Ihnen?

Man wird ängstlicher.

Wie gehen Sie damit um?

Mir hilft die Perspektive des Wissenschafters. Wenn man die Persönlichkeit der Täter in verschiedene Kategorien einteilen kann, kommt man mit den schlimmen Dingen viel besser zurecht, die man als Gutachter so mitbekommt.

Betrachten Sie Verbrecher in freudianischer Tradition?

Die Frage, ob jemand schuldfähig ist, kann man nicht auf psychoanalytischer Ebene lösen. Psychopathologie à la Freud und Tiefenpsychologie muss man klar voneinander trennen. Ich versuche schon, die Täter psychoanalytisch zu verstehen. Aber meine Gutachten sollen klassische psychiatrische Antworten liefern.

Glauben Sie an das Gute im Menschen?

Ja, aber mittlerweile genauso an das Böse. Neben Psyche und Persönlichkeit interessieren mich die Situationen, in denen Täter zum Täter werden. Ich möchte wissen, unter welchen Bedingungen das Böse zum Durchbruch kommt. Ist es ein Vollrausch, eine Gruppendynamik oder ein heftiger Gefühlsausbruch? Jeder kann zum Täter, jeder kann wenn nicht zum Mörder, so auf jeden Fall zum Töter werden.

Was hätten Sie gemacht, wenn Jack Unterweger Ihr Patient gewesen wäre?

Wahrscheinlich hätte ich resigniert. Solch schwere Persönlichkeitsstörungen kann man nicht therapieren. Das sind keine Krankheiten wie Depressionen oder ein schizophrener Schub, sondern Charakterzüge. Bei bösartigen Narzissten kann man höchstens versuchen, sie dahin zu bringen, dass sie lernen, mit ihrer Störung umzugehen, damit niemand zu Schaden kommt.

Wie?

Durch Empathietraining, Emotionstraining, Anti-Aggressions-Training. Was für Kränkungen hat der Straftäter erlebt? Am Tag der Sitzung beispielsweise? Beschreiben lassen, zuhören. Solche Menschen sind in der Regel ziemlich intelligent, das kommt einem als Therapeut entgegen. Auch wenn man die Störung an sich nicht wegbekommt.

Ist jemals ein von Ihnen begutachteter Straftäter rückfällig geworden?

Bei den psychisch gestörten Tätern hatte ich Glück bisher. Andererseits müssen wir davon ausgehen, dass etwa 50 Prozent der in psychiatrischen Anstalten untergebrachten Straftäter zu Unrecht verwahrt werden, weil sie fälschlicherweise als gefährlich eingestuft wurden. Das hat auch mit der Angst der Gutachter zu tun, ja nicht zu «lasch» zu agieren: lieber einen Menschen als gefährlich taxieren, auch wenn er es vielleicht gar nicht ist. Ein Dilemma meines Berufs. Wie soll man vorhersagen können, ob sich ein Mensch in einer nicht bekannten Zeit in einer nicht bekannten Situation auf nicht genau definierbare Weise böse verhalten wird oder nicht?

Können Sie mit fiktionalen Kriminalgeschichten etwas anfangen?

Ich bin privilegiert. Geschichten, die die Menschen so faszinieren, hab ich jeden Tag live.

Schauen Sie selber «Tatort»?

Ich schau manchmal Krimis, muss ich zugeben.

Warum?

Ich beteilige mich gerne am Ratespiel: Wer ist der Täter? Auch wenn ich früher oft daneben lag. Meine Frau hat sich auch schon gefragt, wie man mir im echten Leben ähnliche Fälle anvertrauen könne. Aber seitdem ich Bücher schreibe, komme ich dem Täter am Fernsehen viel früher auf die Spur.

Haben Sie einen Tipp für einen psychologisch gut gemachten Kriminalroman?

Schriftsteller sind die besten Psychologen. Auf die Frage seiner Assistenten, welches Lehrwerk sie lesen sollten, pflegte der bekannte Zürcher Psychiater Eugen Bleuler (1857–1939) zu sagen: «Lesen Sie ‹Richard III.› von Shakespeare.» Das möchte ich auch antworten.

Serie: Morde unter dem Mikroskop

Die Forschung spielt eine immer wichtigere Rolle bei der Verbrechensaufklärung: Virtuelle Autopsie, Gesichtsrekonstruktion, die Untersuchung von Insekten an einer Leiche – all diese Methoden verfeinern sich. Gleichzeitig gibt die Wissenschaft Antworten auf grundsätzliche Fragen: Warum werden manche Menschen gewalttätig? Liegt das Böse in den Genen? Die NZZ widmet sich in einer Serie den Geschichten rund um die Forensik. Dies ist die letzte Folge der Reihe.

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