Samstag, Oktober 5

Aus der deutschen Hauptstadt hat Stadler eine riesige Bestellung erhalten – und kann nicht liefern. Wo längst Schweizer Qualität rollen sollte, wird jetzt der Fahrplan zusammengestrichen.

Vor wenigen Tagen war Berlin das Zentrum der Eisenbahnwelt. Alle zwei Jahre präsentieren internationale Zughersteller ihre Erfindungen auf der Innotrans, der global wichtigsten Bahnmesse. Mittendrin stand diesmal ein kleines, gelbes Rechteck: die neueste Generation der U-Bahn-Wagen für Berlin – mit Schweizer DNA, denn gebaut werden die Wagen von Stadler Rail. «Freuen Sie sich alle darauf, das wird richtig gut», versprach Rolf Erfurt, Vorstandsmitglied der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG), des grössten Nahverkehrsunternehmens in Deutschland.

Die Berliner freuen sich schon lange auf diese Wagen. Viel länger, als sie möchten: Stadler ist mit der Lieferung erheblich im Verzug. Im Jahr 2020 erhielten die Schweizer die grösste Bestellung in der Geschichte der BVG. Der gesamte Rahmenvertrag umfasst die Lieferung von bis zu 1500 Wagen für 3 Milliarden Euro.

Jetzt drohen Stadler Vertragsstrafen

Die erste Tranche beinhaltet 376 Wagen für 1,2 Milliarden Euro. Sie hätten ab 2022 durch die U-Bahn-Tunnel rollen sollen. Doch darauf wartet Berlin bis heute. Die Verzögerung verschärft die Probleme der Lebensader von Deutschlands grösster Stadt, die 530 Millionen Fahrgäste pro Jahr transportiert. Die Ausfälle häufen sich. Im September dünnten die BVG den Fahrplan aus, um den Takt zu stabilisieren. Die Züge sind alt und anfällig, das neue Rollmaterial wird schmerzlich vermisst.

Für Stadler könnte die Verspätung ein finanzielles Nachspiel haben: «Selbstverständlich sind bei einem Kontrakt dieser Grössenordnungen auch Vertragsstrafen für verzögerte Lieferungen ein Thema», teilen die BVG auf Anfrage mit. Es gibt noch viel zu tun: Derzeit befinden sich erst drei Stadler-Fahrzeuge im Testbetrieb; die Erkenntnisse fliessen in die Serienproduktion ein. Ab Frühjahr 2025 würden weitere Fahrzeuge erwartet, so die BVG, aber zunächst auch nur für Tests und Schulungen der Fahrer.

Für Stadler Rail ist die Verzögerung keine Lappalie. Die Berliner Bestellung gehöre bei dem Unternehmen zu den grossen, bedeutenden Aufträgen, sagt Bernd Laux von der Zürcher Kantonalbank (ZKB). Der Rahmenvertrag stehe für mehr als 10 Prozent des Orderbestandes des Schienenfahrzeugherstellers aus Bussnang. «Es handelt sich um einen prestigeträchtigen Auftrag in einem sehr umkämpften Markt, in dem die beiden grössten Wettbewerber zu Hause sind», sagt der Analyst Laux mit Blick auf Siemens und Alstom.

Doch wie konnte das Unternehmen Stadler, das sonst als zuverlässig gilt, in Berlin so in die Bredouille geraten? Eine Rolle spielt, dass U-Bahn-Wagen immer Massanfertigungen für das jeweilige Schienennetz sind, etwa im Hinblick auf Tunnelgrössen, Kurvenradien und Perronlängen. Und in Berlin wird mit zweierlei Mass gemessen, denn es gibt eigentlich zwei U-Bahnen: eine mit kleinen und eine mit grösseren Wagen, wobei diese grösseren im internationalen Vergleich auch klein sind.

In der Not werden die Berliner kreativ

Das hat historische Gründe. Das sogenannte Kleinprofil geht auf eine Entwicklung der Firmen Siemens und AEG vor rund 130 Jahren zurück – konstruiert zu Demonstrationszwecken für den damaligen Kaiser Wilhelm II. (der sich einmal beim Einsteigen in die kleinen Wagen die Pickelhaube vom Kopf stiess). Diese Wagen fahren auf vier der neun Berliner U-Bahn-Linien. Das Grossprofil entstand vor etwa 100 Jahren auf Beschluss des Berliner Senats. Seither braucht es zwei Wagentypen, die sich trotz identischer Spurweite nicht einfach austauschen lassen.

Insbesondere beim Grossprofil herrsche ein erheblicher Mangel an Fahrzeugen, sagt Markus Hecht, Experte für Schienenfahrzeuge an der Technischen Universität (TU) Berlin. Als Abhilfe würden bei kleinen Wagen schon «Blumenbretter» montiert: Bretter an den Türbereichen, um auf den Grossprofil-Strecken die Distanz zum Perron zu überbrücken und so die Wagen zu ertüchtigen.

«Das gab es zuvor nur zwei Mal in der Geschichte, nämlich 1920 und 1946», sagt Hecht. Auch Wagen aus den 1960er Jahren sind noch im Einsatz, was die Zuverlässigkeit schmälert. Engpässe beim Personal und ein hoher Krankenstand tragen ebenfalls zu den Ausfällen bei.

Umso wertvoller wäre der Ersatz durch Stadler – und hätte theoretisch nicht so schwer sein sollen: «Die bei Stadler bestellten Wagen sind Standardsysteme ohne hohe technische Anforderungen», sagt der TU-Experte Hecht. Umso mehr, als sie ohne Klimaanlagen geordert wurden. «Diese Fahrzeuge sind auch weniger komplex als andere U-Bahnen, die Stadler schon gebaut hat, zum Beispiel für Glasgow.» Obendrein hat Stadler schon eine Wagenreihe für das Berliner Kleinprofil entwickelt; sie ist seit 2015 in Betrieb.

«Die neue U-Bahn ist leider ein Corona-Kind»

Gross war die Freude, als man 2019 den Zuschlag für den neuen Auftrag erhielt. Er wird am Standort Berlin-Pankow abgearbeitet, wo 1500 Mitarbeiter beschäftigt sind, und ist dort die derzeit grösste Bestellung. Allerdings verzögerte eine Klage des unterlegenen Konkurrenten Alstom gegen das Ergebnis der Ausschreibung den Beginn der Arbeiten.

Diese Klage führte dazu, dass Stadler erst im Frühjahr 2020 loslegen konnte – genau dann, als die Corona-Pandemie ausbrach. «Die neue U-Bahn ist leider ein echtes Corona-Kind», begründet Stadler auf Anfrage die Berliner Probleme: Die Ingenieure hätten sich wegen der Arbeit im Home-Office nicht gut austauschen können. Später seien durch den Ukraine-Krieg Lieferketten zerbrochen. Es bestünden bis heute Lieferengpässe, so Stadler, beispielsweise bei Kleinteilen für den Innenausbau.

Trotzdem lässt sich fragen, ob Stadler robust genug geplant hat. «Allgemein gesprochen sind Verzögerungen bei der Auslieferung von Rollmaterial häufig auf Fehler in der Projektleitung und beim Management zurückzuführen, zum Beispiel bei der rechtzeitigen Beschaffung», sagt Markus Hecht von der TU Berlin. Andere Hersteller könnten U-Bahnen derzeit pünktlich liefern.

Bernd Laux von der ZKB hat gewisses Verständnis für Stadlers Materialprobleme: Es stimme, dass die Verwerfungen der Lieferketten in der Bahntechnik noch nicht vollständig gelöst seien, anders als in weiten Teilen der übrigen Industrie. «Es gibt in der Branche noch immer vereinzelte Engpässe», so Laux. Dies etwa wegen des allgemein hohen Auftragseingangs – auch Stadler Rail hat grundsätzlich sehr gute Perspektiven – als auch wegen Einzelereignissen wie der Überschwemmungsschaden beim Aluminiumteile-Lieferanten Constellium im Wallis.

Stadler: Wir haben uns nicht übernommen

Aber nicht nur die Hardware ist ein Problem. Auch bei der Software läuft nicht alles rund, etwa für die Steuerung. Die Züge sollen teilautonom fahren und die Kompositionen sehr flexibel zusammengestellt werden können, was die digitale Kommunikation der Systeme anspruchsvoll macht. Dort funktioniere nicht alles einwandfrei, teilt Stadler mit.

Dennoch gibt man sich kämpferisch: «Stadler hat sich mit dem BVG-Auftrag nicht übernommen», erklärt der für hohe Qualität zu hohen Preisen bekannte Schienenfahrzeughersteller. Man arbeite die Themen gemeinsam mit den BVG ab.

Die Verkehrsbetriebe haben keine andere Wahl. Sie legten mit dem Grossauftrag viele Eier in einen Korb, weil ihr Sammelsurium von Fahrzeugtypen zur Belastung wurde. Statt hundert Wagen hier und hundert Wagen dort zu kaufen, soll eine langfristig homogene Flotte aufgebaut werden, wie der BVG-Manager Erfurt auf der Innotrans sagte. «Zukunftssicher» wolle man sein. Noch hat die Zukunft in Berlin nicht begonnen.

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