Donnerstag, Oktober 3

Was Gisèle Pelicot erleiden musste, ist abscheulich. Doch wie kommt es, dass plötzlich jeder Mann mit den 51 Vergewaltigern auf der Anklagebank sitzt?

Ein häufiges Synonym für Männer ist derzeit «Monster». Männer begehen so schwere Sexualverbrechen an Frauen, dass der Schluss naheliegen könnte: Die Welt wäre besser ohne sie. Der Männerhass hat eine Ursache: Männergewalt.

Sieben Jahre ist es her seit #MeToo, der weltweiten feministischen Bewegung, die einen Bewusstseinsprozess über sexuelle Gewalt und Sexismus in Gang setzte. Doch noch immer kommen Missbrauchsfälle ans Licht, die in Abgründe blicken lassen.

Da sind zum einen die Enthüllungen über die Stars, die dank ihrer Macht, ihrem Erfolg und Ruhm glauben, sie könnten über Frauen verfügen. Sie fühlen sich unantastbar. Der Rapper Sean Combs alias P. Diddy wurde vor kurzem verhaftet. Er soll über Jahre Frauen mit Alkohol und Drogen betäubt und vergewaltigt haben. Manchmal habe er sie zu Sex mit anderen Männern gezwungen, dabei zugeschaut und sich befriedigt, heisst es in der Klage seiner Ex-Freundin Casandra Ventura.

Dem ägyptischen Unternehmer und Milliardär Mohamed Al-Fayed, der vor einem Jahr gestorben ist, werfen 20 Frauen vor, sie belästigt oder vergewaltigt zu haben. Auch seine Fast-Schwiegertochter Lady Diana soll er bedrängt haben mit den Worten: «In der ägyptischen Tradition kommt der Vater zuerst.» So berichtet es ihr ehemaliger Butler.

Doch verstörender sind die Meldungen über nichtprominente Sexualverbrecher, weil diese Männer «mitten unter uns» sind. Man kann ihnen immer und überall begegnen. Man teilt vielleicht sogar mit einem solchen Mann das Bett.

Am Schicksal von Gisèle Pelicot nimmt die Welt zurzeit intensiv teil, weil die Französin will, dass der Prozess gegen ihren Ex-Mann und 50 Mitangeklagte öffentlich ist. Die Scham solle die Seite wechseln, sagt die 72-Jährige: von ihr, dem Opfer, zu den Tätern. Damit beweist sie grossen Mut. Es dürfte ihr helfen, die Kontrolle über ihr Leben ein Stück weit zurückzuerlangen. Sie ist wieder Handelnde und den Männern nicht mehr ausgeliefert.

Das war sie neun Jahre lang, als buchstäblich Ohnmächtige. So lange hat Dominique Pelicot seiner Frau heimlich Beruhigungsmittel ins Essen gemischt und die tief schlafende Frau von fremden Männern vergewaltigen lassen. Laut Staatsanwaltschaft sollen sich 83 Männer an ihr vergangen haben, dies mehr als 90 Mal. Dabei hat der Ehemann die Taten gefilmt. Er ist geständig, während die meisten der 50 identifizierten Mitangeklagten ihre Beteiligung bestreiten oder geltend machen, dass sie vom Einverständnis des Opfers ausgegangen seien. Von «unbeabsichtigter Vergewaltigung» ist sogar die Rede.

Diese immer neuen Fälle von sexualisierter Gewalt wühlen auf und machen wütend. Sie lassen sich nicht mehr nach Hollywood verbannen. Unter den Vergewaltigern von Gisèle Pelicot sind Informatiker, Lackierer, Restaurantmanager, Krankenpfleger, Journalisten, Unternehmer, Militärangehörige, Familienväter im Alter zwischen 22 und 74, also ein Querschnitt der Bevölkerung. Nur zwei Männer sollen auf Sex verzichtet haben, als sie die bewusstlose Frau gesehen haben.

Empörung führt zu Pauschalisierungen

Deshalb wird jetzt gefragt: Steckt in jedem Mann ein Vergewaltiger? In einem offenen Brief, der in der französischen Tageszeitung «Libération» veröffentlicht wurde und den mehr als 260 Leute unterzeichnet haben, unter ihnen Schriftstellerinnen, Politikerinnen und Historikerinnen, also vorwiegend Frauen, heisst es: «Freund der Familie, Fremder in einer Bar oder auf der Strasse, Bruder oder Cousin, Freund, Kollege, Professor, Nachbar: Alle Frauen können unter den vielen Angeklagten leider ein Gesicht finden, das eine traumatische Erinnerung in ihnen weckt.»

Mit ihrem Entscheid, öffentlich zu machen, was sie durchlitten hat und was ihr Leben zerstörte, will Gisèle Pelicot Opfer sexueller Gewalt ermutigen, es ihr gleichzutun. Dennoch haben nicht «alle Frauen» annähernd ähnliche Erfahrungen gemacht. Auch wenn sich die Frauen, die vor dem Gerichtsgebäude in Avignon «Wir sind alle Gisèle» skandieren, sich so mit ihr solidarisieren: Pelicots Geschichte ist nicht austauschbar. Sie ist in ihrer Ungeheuerlichkeit aussergewöhnlich.

Was wiederum nicht heisst, dass man diesen individuellen Fall nicht zum Anlass nehmen soll, um über geschlechtsspezifische Gewalt und die ihr zugrunde liegenden gesellschaftlichen Machtstrukturen zu sprechen.

Gerade die Häufigkeit, mit der die Fälle aufgedeckt, und die Intensität, mit der sie medial beleuchtet werden, führen zu der Diagnose, dass das Problem ein Geschlecht hat, mit dem grundsätzlich etwas nicht stimmt. «Die Welt könnte so schön sein ohne euch» lautete der Titel eines «Spiegel»-Beitrags, in dem die Journalistin schreibt, dass «Femizide, Gewalt, Rechtsextremismus» gemeinsam hätten, dass sie männlich seien. «Solange es Männer gibt, gibt es keine sicheren Orte: Nirgendwo.» Sie habe es satt: «Es wird Zeit, dass ihr endlich an euch arbeitet.»

Ihr «Spiegel»-Kollege kritisiert, dass wenige Männer am Prozess in Avignon teilnähmen. Ein Mann mache sich moralisch mitschuldig, wenn er sich nicht dafür interessiere, was Frauen erleiden.

Sex mit leblosen Körpern erregt ihn

Es ist verführerisch, nun ebenfalls «alle Männer» zu meinen, wenn man von Tätern spricht. Doch pauschale Vorverurteilungen unterschlagen, dass Dominique Pelicot eine besondere Psychopathologie aufweist. Dem einstigen Angestellten beim französischen Energiekonzern EdF attestieren die Gerichtspsychiater verschiedene Persönlichkeitsstörungen. Dass Gisèle Pelicot sagte, sie habe während 50 Ehejahren «volles Vertrauen in diesen Mann» gehabt, ist kein Widerspruch.

Der Angeklagte habe eine extrem gespaltene Persönlichkeit, als gebe es ihn zweimal, stellten die Gutachter nach langen Gesprächen mit ihm fest. Sie hätten so etwas selten gesehen. Hier der empathielose, narzisstische und sadistische Mann mit einer Neigung, andere zum Objekt zu degradieren, das man beliebig manipulieren kann. Dort der fürsorgliche Familienvater, der seine Frau respektiert, sie sogar idealisiert und von ihr wie von einer Heiligen spricht. «Das Erstaunliche ist», so ein Gutachter, «er lügt nicht, er meint das ernst.»

Dominique Pelicot zeigt diverse von der Norm abweichende sexuelle Vorlieben. Dazu gehört die Somnophilie, bei der es jemanden erregt, eine schlafende oder bewusstlose Person zu missbrauchen. Oder die Nekrophilie, womit die Lust auf Sex mit Leichen gemeint ist. Inzwischen wird er auch in Verbindung mit zwei weit zurückliegenden, nie aufgeklärten Mordfällen gebracht.

Man muss annehmen, dass es die anderen Vergewaltiger gleichermassen erregte, sich an einer komplett wehrlosen Frau zu vergehen. Sie dürften psychisch weniger auffällig sein, aber sie sind ebenfalls Triebtäter und verfügen möglicherweise über die Fähigkeit, das Erlebte abzuspalten.

Kann man also sagen, dass hier der Durchschnittsmann eine Straftat beging? Dass es eine erhebliche Anzahl Männer gibt, die das Angebot annähmen, mit jemandem Sex zu haben, der sich wie ein Stück Fleisch anfühlt?

Mit einem «Monster» hat man nichts zu tun

Man mag in der aufgebrachten Stimmung keine Psychologisierungen hören, die schnell den Anschein erwecken können, die Täter sollten entschuldigt werden. Wer verstehen will, hat schon zu viel Verständnis. Deshalb nennt man den Mann «Monster» oder «Bestie», wie das viele Medien tun – obwohl die Bezeichnung ein Widerspruch ist zu der Annahme, dass solche ganz normalen Typen im Tram neben einem sitzen könnten.

Einem Monster spricht man das Menschsein ab. So lässt sich besser umgehen mit der beunruhigenden Erkenntnis, dass in jedem Menschen Abgründe lauern. Auch Frauen sind Täterinnen. In manchen Fällen machen sie ihre Kinder krank, um die Aufmerksamkeit von Ärzten und dem Umfeld zu erhalten. Sie vergiften ihre Männer. Ghislaine Maxwell hat dem Sexualverbrecher Jeffrey Epstein Mädchen zugeführt, damit er sie systematisch missbrauchen kann. Sie selber nahm an den Sexorgien teil.

Kürzlich wurde der Fall eines Zürchers vor Gericht verhandelt, der seine asiatische Hausangestellte in einen Käfig sperrte. Mit einem Topf als Toilette. Er überwachte jede Bewegung von ihr per Video und schrieb ihr vor, was sie anzieht. Nachts nur weisse Unterwäsche. Im Einfamilienhaus mit Swimmingpool gab es eine Mittäterin: die Ehefrau.

Noch häufiger werden Männer Opfer von Gewalt durch Männer. Der Missbrauch in der katholischen Kirche betraf fast ausnahmslos Knaben. Am Dienstag erhoben weitere 120 mutmassliche Opfer Vorwürfe gegen den Rapper Sean Combs. Unter ihnen sind 60 Männer.

Doch das hilft bei der Ohnmacht nicht weiter, welche die abscheuliche Tat an Gisèle Pelicot auslöst. Männer lebten rücksichtslos ihre Sex- und Machtphantasien aus. Die französische Soziologin Véronique Le Goaziou sagte auf SRF: «Die Männer müssen sich hinterfragen bezüglich ihrer Phantasien.» Doch nicht die Phantasien sind das Problem, sondern die fehlende Triebkontrolle.

Phantasien machen noch niemanden zum Täter

Die allermeisten Menschen lernen früh, ihre Triebe zu kontrollieren. Mit der Arbeit an sexuellen Phantasien ist es schwieriger, weil diese sich kaum zensurieren lassen. Je bewusster man sich ihrer ist, desto besser gelingt es, mit ihnen umzugehen und sie in die Sexualität zu integrieren, ohne sie auszuleben.

Es müsste Teil der Sexualerziehung sein: Dass man sich etwas vorstellt, heisst noch lange nicht, dass man es in Realität erleben muss. Viele Frauen haben Überwältigungsphantasien, die rein gar nichts mit realen Wünschen zu tun haben.

Der forensische Psychiater Elmar Habermeyer sagte in der NZZ: Nur weil jemand Phantasien mit Machtgelüsten habe, die er nicht umsetzen könne, begehe er noch keine Delikte. «Aber ich glaube, dass Sexualität, verbunden mit einem gewissen Gefühl des Sichauslieferns oder dem Wunsch, eine Situation zu kontrollieren, relativ häufig ist.» Solange Phantasien von Dominanz und Unterwerfung, Aggression und Zärtlichkeit einvernehmlich ausgelebt werden, sind sie ebenfalls kein Problem.

Bei Dominique Pelicot war alles anders. Weil seine Frau auf seine sexuellen Wünsche nicht einging, wie er aussagte, betäubte er sie und unterwarf sie seinem Willen. Nun konnte er alles mit ihr machen, was vorher nicht möglich war. Er zog ihr Reizwäsche an, nahm jede Sexualpraktik an ihr vor, als wäre sie eine Puppe. Über 50 ganz unterschiedliche Männer haben sich an seiner Tat beteiligt. Liegt es deshalb nahe, dass jeder Mann ein Täter ist?

Man muss davon ausgehen, dass jeder Mensch zu Dingen fähig ist, die man sich nicht vorstellen kann. Doch solange er nichts tut, was ihn zum Täter macht, lässt sich die Frage verneinen.

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