Montag, September 16

Der Telegram-CEO Pawel Durow ist beides: Held der Meinungsfreiheit und Querkopf, der sich aus der Verantwortung stiehlt. Gelingt es den französischen Behörden, den Helden in Durow zu stärken, gewinnen alle durch die Festnahme.

Es ist ein offenes Geheimnis, dass Telegram Straftaten erleichtert. Ein Beispiel aus Zürich: Wer am Hauptbahnhof steht und die Funktion «Leute in der Nähe» freischaltet, findet innerhalb von wenigen Sekunden mehrere Händler von Drogen: Heroin, Koks, Crystal Meth – alles in Gehdistanz.

Und das ist bei weitem nicht das Einzige. Wer spezifisch danach sucht, findet in Nutzergruppen verbotene jihadistische Propaganda. In Exekutionsvideos wird Gewalt verherrlicht, alles erreichbar mit ein paar wenigen Klicks. Diese Terror-Inhalte richten sich gezielt an Menschen in Deutschland, der Schweiz und Österreich, sind sie doch auf Deutsch beschriftet und kommentiert. Hier rekrutiert der IS für Attentate wie jüngst in Solingen.

Weiter gibt es Kanäle, in denen Kindsmissbrauchsmaterial erstellt und geteilt wird. Das IT-Sicherheitsunternehmen Trend Micro entdeckte jüngst einen Kanal mit einem Bot, in dem man Bilder von voll bekleideten Mädchen hochladen und KI-generierte Nacktbilder der Kinder zurückerhalten kann. Auch Bildmaterial aus echtem Kindsmissbrauch wird über Telegram geteilt.

Damit überschreitet Telegram immer wieder die Grenzen des Gesetzes. Und dafür soll Pawel Durow, der Gründer und CEO der Plattform, nun belangt werden. So suggerieren es jedenfalls Berichte über die Festnahme Durows in Frankreich. Der genaue Wortlaut der Anklage oder des Haftbefehls ist noch nicht öffentlich.

In freien Demokratien schadet Telegram mehr, als es nützt

Mit der Verhaftung Durows handeln die französischen Behörden im Interesse ihrer Staatsbürger. In westlichen Ländern mit einer funktionierenden Demokratie, wo auch Verlautbarungen von Oppositionellen und Verschwörungstheoretikern von der Meinungsfreiheit geschützt werden, schadet Telegram mehr, als es nützt, weil es schreckliche Straftaten ermöglicht. Schliesslich sind Nacktfotos von Kindern genauso wenig durch die Meinungsfreiheit geschützt wie Videos mit Terrorpropaganda.

In Diktaturen, wo viele der rund 800 Millionen Telegram-Nutzer wohnen, ist die Güterabwägung eine andere. Gerade in Russland ist Telegram einer der wenigen verbleibenden Kanäle für Oppositionelle, der nicht überwacht und zensiert wird – jedenfalls wäre dies nicht bekannt. Das macht die Plattform wertvoll, obwohl sie auch dort Straftaten anheizt. Nun befürchten Regimekritiker in Diktaturen, dass das Netzwerk durch die Verhaftung Durows geschädigt wird und sie ihren Kommunikationskanal verlieren.

Diese Befürchtungen sind aber allzu pessimistisch. Denn Telegram kann auch weitgehend ohne politische Inhaltsmoderation bleiben, aber Posts und Kommentare offline nehmen, die Straftaten anheizen. Genauso wie andere Netzwerke kann Telegram Terrorpropaganda löschen, aber ein breites politisches Meinungsspektrum zulassen, Bilder von Kindsmissbrauch löschen, aber Bilder von Protesten zulassen.

Dass dafür ein Filter eingebaut werden müsste, der dann Willkür und staatlicher Überwachung ausgesetzt würde, muss nicht sein. Durow hat ausreichend Standhaftigkeit bewiesen, als dass ihm zugetraut werden kann, dass er Drogen, Terror und Kindsmissbrauch löscht, sich politisch aber zurückhält.

Telegram löschte bereits Gruppen, ohne gleich die Meinungsfreiheit abzuschaffen

Dass das möglich ist, zeigten mehrere Fälle aus der Vergangenheit. Im Jahr 2022 gab Telegram Nutzerdaten an das deutsche Bundeskriminalamt (BKA) heraus, wie der «Spiegel» recherchierte. Auch dabei ging es um Terrorismus und Kindsmissbrauch.

Telegram richtete laut der Recherche sogar eine E-Mail-Adresse speziell für das BKA ein. Dorthin würden sich die Ermittlungsbehörden wenden, wenn sie in laufenden Verfahren auf strafbare Inhalte stiessen, die gesperrt werden sollten. Mehr als hundert deutsche Kanäle und Gruppen habe das BKA an Telegram gemeldet, erklärten informierte Kreise gegenüber dem «Spiegel». Obwohl Telegram damals die Kooperation mit den Behörden sowie die Inhaltsmoderation abstritt, seien tatsächlich nahezu alle der gemeldeten Kanäle offline genommen worden.

Das zeigt: Telegram kann schädliche Inhalte löschen und tut dies auch, ohne dass dabei die Meinungsfreiheit abgeschafft würde. Forderungen sind angebracht, dass die Plattform mehr unternimmt, um Straftaten zu verhindern. Weiter wäre mehr Transparenz darüber wichtig, welche Posts und Gruppen gelöscht werden und aus welchen Gründen.

Nun müssen die französischen Behörden möglichst bald erklären, auf welcher Gesetzesbasis sie Durow festhalten. Je länger sie damit zuwarten, desto willkürlicher scheint die Haft. Gelingt es ihnen aber, zu bewirken, dass Telegram Straftäter nicht mehr unbehelligt gewähren lässt, gewinnt auch die Plattform. Denn damit würde sie endgültig ihrer hehren Ziele dienen.

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