Mittwoch, November 27

Der Schweizer Aussenminister und der Vizepräsident der EU-Kommission bereiten in Bern das Ende der Verhandlungen vor. Bei der Schutzklausel zeichnet sich eine Lösung ab. Und der Ort des Treffens mag ein Omen sein.

Hoher Besuch aus Brüssel: Am Mittwoch ist der Vizepräsident der EU-Kommission Maros Sefcovic nach Bern gereist, um den Schweizer Aussenminister Ignazio Cassis zu treffen. Gemeinsam mit ihren Spitzendiplomaten haben sie sich auf dem Landsitz Lohn in der Nähe von Bern versammelt, um eine politische Bilanz zu den laufenden Verhandlungen zu ziehen. Das Treffen ist zurzeit immer noch im Gange, bis anhin liegen keine Informationen über den Ausgang vor.

Die Problemstellung hingegen ist bekannt. Die Verhandlungen sind seit Mitte März im Gange. Inhaltlich geht es um praktisch alles: um die Beziehung Schweiz – EU als Ganzes, um den bilateralen Weg, den die Europäische Union in der heutigen Form nicht mehr fortführen will.

Die Verhandlungen haben eine Phase erreicht, in der die Diplomaten nicht mehr alleine weitermachen können. Jetzt sind Entscheide auf politischer Ebene gefragt, damit ein Abschluss gelingen kann. Also reiste Sefcovic nach Bern. Die beiden Delegationen hatten sich dem Vernehmen nach viel vorgenommen für diesen Abend. Ein Durchbruch jedoch stand nicht auf dem Programm. Aussenminister Cassis betonte wenige Stunden vor dem Treffen an einer Medienkonferenz, seine Zusammenkunft mit Sefcovic stelle keine Verhandlungsrunde dar. Vielmehr gehe es um eine «Standortbestimmung».

Das heisst aber noch lange nicht, dass an diesem Abend keine wegweisenden Vorentscheide fallen. Kenner des Dossiers sprechen davon, dass Cassis und Sefcovic die Bandbreiten definieren werden, dass sie festlegen, welches die gemeinsamen Spielräume für eine Einigung bei den verbleibenden Differenzen sind. Inhaltlich geht es primär um Fragen rund um die Personenfreizügigkeit, das neue Stromabkommen und die Schweizer Kohäsionsbeiträge. Hingegen ist nicht vorgesehen, dass Cassis und Sefcovic für einzelne Streitfragen fixe Lösungen vereinbaren oder gar einen umfassenden Durchbruch erzielen.

Schutzklausel mit Schiedsgericht?

Just im schwierigsten Dossier ist Bewegung auszumachen: In den zähen Gesprächen zur Zuwanderung scheint die EU mittlerweile gesprächsbereit zu sein. Die Schweiz verlangt eine Schutzklausel zur Personenfreizügigkeit, damit sie die Einwanderung temporär begrenzen könnte, wenn diese problematische Ausmasse annehmen sollte. Die EU wollte davon anfänglich gar nichts wissen.

Doch nun mehren sich die Zeichen, dass sie zu einer Lösung Hand bietet. Bereits nach der jüngsten Aussprache im Bundesrat Anfang November ist durchgesickert, dass für die EU eine Schutzklausel mit einem bilateralen Schiedsgericht infrage kommen könnte. Am Mittwoch hat Radio SRF über inoffizielle Informationen aus Brüssel berichtet, die ebenfalls in diese Richtung deuten.

Laut diesen hat die EU-Kommission den Mitgliedstaaten mitgeteilt, dass sie der Schweiz eine Präzisierung der Schutzklausel anbieten wolle. Heute ist im fraglichen Passus nur vage festgehalten, dass die Personenfreizügigkeit bei «schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Problemen» eingeschränkt werden darf. Was das heisst, bleibt unklar.

Die Lösung, die sich in Umrissen abzeichnet, würde erstens in einer Konkretisierung bestehen: Die beiden Seiten würden präziser definieren, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit die Schweiz Einschränkungen beschliessen dürfte. Weil in der Realität trotzdem mit Unstimmigkeiten zu rechnen wäre, könnte die Lösung zweitens ein Schiedsverfahren umfassen. Ein paritätisch besetztes Richtergremium müsste entscheiden, ob die Schweiz die Zuwanderung drosseln darf.

Dabei soll der Europäische Gerichtshof laut den Angaben von Radio SRF kein Mitspracherecht haben. Für die politische Akzeptanz in der Schweiz wäre dies wesentlich. Trotzdem werden die SVP und andere Gegner der Personenfreizügigkeit mit dieser Schutzklausel kaum zufrieden sein. Die Schweiz könnte weiterhin nicht in Eigenregie entscheiden, wann und wie lange sie die Zuwanderung aus der EU begrenzen will – was jedoch mit der Logik der Personenfreizügigkeit auch kaum in Einklang zu bringen wäre.

Das Geld könnte zum Problem werden

In den bevorstehenden Verhandlungsrunden wird die Schutzklausel weiter zu reden geben. Aussenminister Cassis sprach vor den Medien von einem «Trade-off», der jetzt notwendig sei. Materiell äusserte er sich nicht. Laut involvierten Personen geht es jedoch unter anderem darum, dass die Schweiz im Gegenzug zur Schutzklausel dafür sorgen muss, dass ihre Hochschulen von Studierenden aus der EU keine höheren Gebühren verlangen als von einheimischen. Dies wäre insbesondere für die Universitäten St. Gallen und Tessin sowie für die ETH ein Problem. Allenfalls müsste der Bund mit höheren Beiträgen in die Bresche springen.

Ohnehin wird das Geld noch eine wichtige Rolle spielen. Die Finanzlage des Bundes ist bereits angespannt, wenn nun aber die Einigung mit der EU gelingt, kommen weitere Ausgabenposten hinzu. Diese könnten sich gut und gern auf eine Milliarde Franken belaufen. Der Hauptteil entfällt auf die ersehnte Rückkehr der Schweizer Hochschulen in das Forschungsprogramm der EU.

Ein kleinerer – politisch aber höchst heikler – Teil besteht aus den künftigen Kohäsionsbeiträgen der Schweiz an ärmere EU-Länder. Brüssel pocht auf höhere und stetige Zahlungen. Heute sind es jährlich 130 Millionen Franken. Und künftig? Zu hören ist von Beträgen im Bereich von 300 Millionen oder mehr. Bundesrat Cassis seinerseits sagte, auch diese Frage werde man nicht am Mittwochabend entscheiden. Stattdessen sei man übereingekommen, dass über das Geld erst am Schluss gesprochen werde.

Ein «historisches Ensemble»

Die EU hat am Mittwoch bekräftigt, dass sie die Verhandlungen bis Ende Jahr abschliessen will. Die Schweiz will das offiziell ebenfalls, ergänzt jedoch stets, die Qualität müsse stimmen. Indes sprach auch Cassis von «wichtigen Fortschritten» und ergänzte, die Verhandlungen befänden sich «auf der letzten Meile».

Wer will, mag den Ort des Treffens vom Mittwoch als Omen sehen: das Landgut Lohn in Kehrsatz. Der Zufall wollte es, dass der Bundesrat ebenfalls am Mittwoch über die Pläne für die Sanierung des ehrwürdigen Gebäudes informierte. Er schwärmte, das Bauprojekt überzeuge «durch seinen respektvollen Umgang mit dem historischen Ensemble und seine zukunftsweisenden Lösungen für die Erweiterung».

Nach 25 Jahren dürfen wohl auch die Bilateralen als historisches Ensemble gelten. Ob die «zukunftsweisenden Lösungen für ihre Erweiterung» überzeugend sind, wird am Ende das Stimmvolk entscheiden, allenfalls zusammen mit den Ständen.

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